Therapie
TRANSGENERATIONALE TRAUMATA: WENN DAS LEID DER VORFAHREN KRANK MACHT
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Ein junger Mann erbt viel Geld – doch statt Freude empfindet er ein schlechtes Gewissen. Er versteht nicht, warum ihn das Erbe mit Schuldgefühlen belastet. Erst in der Psychotherapie entdeckt er: Der Reichtum seiner Familie stammt aus Unrecht während des NS-Regimes. „Der Sohn wusste davon nichts, doch er hat dieses Familiengeheimnis trotzdem reinszeniert“ – also unbewusst wiederholt und weitergelebt, berichtet die Psychotherapeutin Michaela Huber.
Man spricht dann von transgenerationalen Traumata als seelischen Wunden, die über Generationen weitergegeben werden. Nachfolgende Generationen übernehmen dabei die psychischen Belastungen ihrer Vorfahren – oft ohne Kenntnis des Ursprungs, weil darüber nie gesprochen wurde. Die psychischen Folgen von Krieg, Flucht oder familiärer Gewalt können sich über Jahrzehnte hinweg auf die Nachkommen auswirken.
Vererbtes Trauma erkennen
Betroffene leiden häufig unter
- unerklärlichen Ängsten und Aggressionen,
- GefĂĽhlen von Selbstentfremdung,
- Zwangshandlungen,
- Identitätsunsicherheit,
- Angststörungen oder Depressionen.
Solche Symptome sind typisch fĂĽr ein vererbtes Trauma, das durch transgenerationale Traumata weitergegeben wurde.
„Viele Menschen haben das Gefühl, dass sie nirgendwo zu Hause sind, auch nicht an dem Ort, an dem sie schon lange leben“,
erklärt Traumaexpertin Michaela Huber. Wer in der eigenen Familiengeschichte auf psychische Folgen von Krieg, Flucht oder andere traumatische Erfahrungen trifft, kann auf ein vererbtes Trauma stoßen. Auch Gefühle von Misstrauen, Verfolgung oder die Angst, nicht alt zu werden, können Hinweise sein.
Transgenerationale Traumata: Wie wird Trauma weitergegeben?
Transgenerationale Traumata entstehen nicht durch genetische Vererbung allein, sondern durch ein komplexes Zusammenspiel biologischer, psychologischer und sozialer Faktoren. „Es ist ein komplexer Prozess“, sagt Psychotherapeutin Huber.
Laut dem Psychotherapeuten Harald Schickedanz tragen wir vieles von unseren engen Bezugspersonen in uns. Können Eltern ihre traumatischen Erfahrungen nicht verarbeiten, zeigen sie oft ungewollt belastendes Verhalten:
- emotionale Distanziertheit,
- übermäßiger Beschützerinstinkt oder
- starke Ängstlichkeit.
Diese Haltung kann ein vererbtes Trauma verstärken und die psychischen Folgen beispielsweise von Krieg weitergeben.
Auch nonverbale Signale wie Mimik, Körperhaltung oder die Atmosphäre im Elternhaus hinterlassen Spuren. Sensible Kinder nehmen diese Spannungen auf – und verinnerlichen sie. Das wirkt sich auf ihr Selbstbild und ihre Gefühlswelt aus. Transgenerationale Traumata entwickeln so eine eigene Dynamik.
Transgenerationale Traumata entstehen nicht durch genetische Vererbung allein, sondern durch ein komplexes Zusammenspiel biologischer, psychologischer und sozialer Faktoren.
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Psychische Folgen von Krieg in der nächsten Generation
Die Kölner Fachärztin für Psychiatrie und Psychosomatik Katharina Drexler beschreibt in ihrem Buch „Ererbte Wunden heilen“, wie sich ein vererbtes Trauma auf die seelische Gesundheit auswirkt. Die Weitergabe kann zu Symptomen bis hin zur posttraumatischen Belastungsstörung führen. Transgenerationale Traumata wirken wie unbewältigte Schatten der Vergangenheit, die in das Leben der Nachkommen hineinragen.
Wer den Verdacht hat, an einem solchen Trauma zu leiden, sollte sich auf Spurensuche in der eigenen Familiengeschichte begeben, rät Schickedanz: Wie haben Eltern, Großeltern oder Urgroßeltern gelebt? Gab es bestimmte Lebensmuster, emotionale Spannungen oder Tabuthemen?
Traumatherapie bei transgenerationalem Trauma
Das Erkennen eines vererbten Traumas ist oft der erste wichtige Schritt zur Verarbeitung. Nicht selten ist eine Traumatherapie notwendig, um emotionale Blockaden zu lösen und das Trauma zu integrieren. Schickedanz beschreibt in der Praxis: Ist die Großmutter früh gestorben, hat die Mutter in diesem Alter starke Ängste entwickelt – und die Tochter nun ebenfalls? Das bewusste Erkennen kann eine große Erleichterung bringen.
Es gibt verschiedene therapeutische Ansätze, um transgenerationale Traumata zu behandeln – zum Beispiel eine Traumatherapie nach psychotraumatologischem Konzept. Ziel ist es, die oft unbewusst übernommene Traumatisierung zu verarbeiten und die Selbstregulation zu stärken.
Ebenso können tiefenpsychologisch fundierte oder analytische Psychotherapien helfen, unbewusste Übertragungen zu erkennen und zu bearbeiten. Je nach Ausprägung des vererbten Traumas können auch integrative Methoden sinnvoll sein.
Heilung ist möglich
Welche Form der Traumatherapie geeignet ist, hängt von mehreren Faktoren ab: der Art und Schwere der Symptome, dem Bewusstsein für eigenes oder übernommenes Leid – und der Passung zwischen Patient und Therapeutin oder Therapeut.
Laut Drexler ist die Behandlung transgenerationaler Traumata kein Luxus, sondern eine Chance auf Heilung. „Eine Traumafolgestörung ist immer ein Feststecken von Gefühlen“, sagt Schickedanz. Doch wenn eine Generation den Schrecken verarbeitet, kann der Kreislauf durchbrochen werden – und das vererbte Trauma verliert seine Macht.
Quelle: dpa












