Linienzeichnungen vieler Köpfe, die mit unterschiedlichen bunten Bildern gefüllt sind, zum Beispiel ein Netzwerk, Zahlen, Bienen, eine Blume, Herzen oder Zahnräder.© Anna Bergbauer/iStock/Getty Images Plus
Neurodiversität ist der Begriff dafür, dass jedes Gehirn anders funktioniert – viele sind sich dabei ähnlich, manche unterscheiden sich mehr.

Neurobiologische Vielfalt

NEURODIVERSITÄT – DIE VIELFALT DER GEHIRNE

Lange Zeit galt Neurodiversität als Lern- oder geistige Behinderung. Legasthenie und Dyskalkulie zählen zur Neurodiversität und sind Beispiele dafür, dass Neurodiversität schnell als Behinderung abgetan wird. Doch ist Neurodiversität wirklich eine Behinderung? Was sagt der aktuelle Forschungsstand?

Seite 1/1 6 Minuten

Seite 1/1 6 Minuten

„Wenn es normal ist, nicht normal zu sein, dann bin ich wohl normal“, sagt Ralph Caspers, Moderator von Quarks und Host des YouTube Kanals „Quarks Dimension Ralph“. Denn inzwischen ändert sich der Blickwinkel auf Neurodiversität; sie gilt keineswegs mehr als Behinderung.

Aktuell herrscht in der Gesellschaft noch zu wenig Aufklärung über Neurodiversität. Viele denken nach wie vor, es sei eine Behinderung. Unwissenheit über Neurodiversität kann zum Beispiel zu Vorurteilen gegenüber neurodiversen Personen führen. Neurodiverse Menschen müssen sich an die heutige Leistungsgesellschaft oft stark anpassen, weshalb Neurodiversität im Alltag oft übersehen wird. Das betrifft zum Beispiel die Perspektiven, Bedürfnisse und Potenziale neurodiverser Personen.

Neurodiversität – jedes Gehirn ist anders

Jedes Gehirn ist einzigartig und arbeitet auf seine eigene Weise. Die unterschiedlichen Funktionsweisen eines jeden Gehirns werden als Neurodiversität bezeichnet. Dabei handelt es sich weder um eine Behinderung noch um eine Krankheit.

Neurodiversität äußert sich zum Beispiel als unterschiedliche Informationsverarbeitung des Gehirns. Das macht sich bemerkbar bei:

  • der unterschiedlichen Wahrnehmung der Umwelt
  • der Empfindlichkeit gegenüber Reizen wie Lärm, großen Menschenmengen, Stress und weiteren
  • der gesprochenen oder geschriebenen Sprache
  • der Interaktion mit anderen Menschen
  • dem Lernen
  • dem Denken
  • der Motorik

Spektrum der Neurodiversität – zwischen „normal“ und „anders“

Neurodiversität ist ein Spektrum von neurotypisch („normal“) bis neurodivergent („anders“). Neurotypisch sind Menschen, deren neurobiologische Entwicklung der Norm entspricht.

Menschen, die sich innerhalb des Neurodiversitätsspektrums befinden, aber von der Norm abweichen, werden als neurodivergent bezeichnet. Oft wird der Begriff „neurodivers“ synonym verwendet.

Neurodiversität: Beispiele

  • ADHS
  • Autismus
  • AuDHS
  • Hochsensibilität
  • Dyslexie/Legasthenie
  • Dyskalkulie
  • Dyspraxie
  • Hochbegabung
  • Bipolare Störungen
  • Tourette
  • Down-Syndrom

Neurodiversitätsforschung – warum Neurodiversität keine Behinderung ist

„Die Neurowissenschaften treten gerade in eine neue Phase ein, in der sie die radikale Individualität des menschlichen Gehirns entdecken.“

Professor Dr. André Frank Zimpel, Leiter des Zentrums für Neurodiversitätsforschung (ZNDF) Hamburg/Eppendorf

Bei circa 86 Milliarden Nervenzellen, die der Mensch nach aktuellen Zählungen besitzt, entstehen je 1000 bis 10000 Nervenverbindungen zwischen den einzelnen Zellen.

„In einem Kubikmillimeter Gehirn sind etwa so viele Nervenverbindungen, wie die Milchstraße Sterne hat.“

Professor Dr. André Frank Zimpel

Anhand dieser unglaublich großen Variation neuronaler Verbindungen wird deutlich, weshalb jedes Gehirn anders funktioniert. Und warum von der Norm abweichende Funktionsweisen – wie sie bei der Neurodiversität vorkommen – nicht automatisch Behinderungen sind. So ist im Spektrum der Neurodiversität zum Beispiel eine Lese-Rechtschreib-Schwäche als natürliche Varianz der neurologischen Entwicklung zu betrachten statt als Lernstörung.

Eine Gesellschaft profitiert von Neurodiversität genauso wie zum Beispiel die Natur von der Biodiversität – denn Neurodiversität ist ein Beispiel für Bewegung und Veränderung einer Gesellschaft.

Ziel der Forschung ist es, die Gesellschaft zu sensibilisieren. Durch Aufklärung über Neurodiversität soll ein Umdenken stattfinden – weg von Behinderung und Krankheit, hin zu natürlicher Vielfalt. Stigmata sollen abgebaut werden, indem Bewusstsein und Verständnis geschaffen werden. Durch das Erkennen struktureller Barrieren können Rahmenbedingungen ermöglicht werden, in denen sich Personen in ihrer Neurodiversität zum Beispiel frei entfalten und nicht mehr anpassen müssen.

Ein großes Problem liegt allerdings darin, dass die Forschung zur Neurodiversität zum Beispiel im Bildungskontext kaum akzeptiert wird. Bildungseinrichtungen sind oft überfordert, wenn es darum geht, auf Bedürfnisse neurodivergenter Personen einzugehen. Es ist realistischer, dass Formen der Neurodiversität als Lern- oder geistige Behinderung angesehen werden. Fatal ist es dann, wenn der „falsche“ Umgang mit neurodiversen Kindern oder erwachsenen Personen zur Ausgrenzung führt.

Im Rahmen der wissenschaftlichen Aufklärung soll Neurodiversität in der Gesellschaft mehr Resonanz finden, um den Ruf als Behinderung oder Krankheit loszuwerden. Neurodiversität ist eine Chance und Bereicherung für die Gesellschaft.

Ist Neurodiversität also nie eine Behinderung?
Auch wenn Neurodiversität an sich keine Behinderung ist, kann es sein, dass Betroffene große Schwierigkeiten im Alltag haben. Zum Beispiel, wenn sie in ihrer Kommunikationsfähigkeit eingeschränkt oder extrem lichtempfindlich sind. Dann kann im Einzelfall darüber entschieden werden, ob die Anerkennung einer Behinderung Nachteilsausgleiche ermöglicht.

Neurodiversität am Arbeitsplatz

Studien zeigen Vorteile der Neurodiversität in der Arbeitswelt. Beispiele sind:

  • Besserer Umgang mit Herausforderungen, kreative Problemlösung
  • Perspektivwechsel
  • Höhere kollektive Intelligenz (jeder hat seine Stärken, die er einbringen kann)
  • Effektivere Zusammenarbeit

Neurodiversität am Arbeitsplatz Apotheke

Kreative Problemlösestrategien und Perspektivwechsel können bei sämtlichen Problemen hilfreich sein. So können etwa Lieferengpässe effektiver bewältigt werden. Eine besondere Eigenschaft, die bei Neurodiversität zum Beispiel häufig vorkommt, ist die Detailgenauigkeit – hilfreich bei Aufgaben in Labor und Rezeptur, aber auch bei den Rezeptkontrollen.

Aufgaben wie der Handverkauf, Labor und Rezeptur, Backoffice und so weiter können nach individuellen Stärken eingeteilt werden, wodurch das Team effektiver und sich gegenseitig ergänzend zusammenarbeiten kann. So können Mitarbeiter mit Neurodiversität zum Beispiel lieber den Schriftverkehr bearbeiten, statt Telefonate zu führen.

Rahmenbedingungen für neurodivergente Teams

Da Neurodiversität keine Behinderung darstellt, gibt es für Arbeitgeber auch keine besonderen Fürsorgepflichten für neurodivergente Mitarbeiter. Allerdings kann es hilfreich sein, bestimmte Rahmenbedingungen anzupassen, damit neurodivergente Personen ihre Fähigkeiten voll entfalten können. Kleine Veränderungen, die kaum oder sogar gar keine Kosten verursachen, reichen oft schon aus.

Noise-Cancelling-Kopfhörer oder Ohrstöpsel

Neurodiversität kann zum Beispiel dazu führen, dass betroffene Menschen sehr reizempfindlich sind. Die Geräuschintensität im Apothekenalltag kann daher für Mitarbeiter im Spektrum der Neurodiversität schnell die Konzentration unterbrechen.

Noise-Cancelling-Kopfhöher oder Ohrstöpsel zur Geräuschunterdrückung sind einfache und günstige Hilfsmittel, die im Backoffice und sogar im Handverkauf unauffällig getragen werden können. Somit lässt sich die Konzentration der Mitarbeiter trotz Neurodiversität erhalten und eine Behinderung der Arbeitsabläufe vermeiden.

Rückzugsmöglichkeiten und Minipausen

Rückzugsmöglichkeiten lassen sich flexibel in den Apothekenalltag integrieren. Sie dienen als Schutz vor Reizüberflutung und Überforderung, die aufgrund der Reizempfindlichkeit bei Neurodiversität schnell auftreten können. Dagegen helfen zum Beispiel kleine Pausen in einem separaten Raum oder ein kurzes Durchatmen an der frischen Luft.

Struktur und Kommunikation

Menschen im Spektrum der Neurodiversität können mit Behinderungen ihrer Routinen nicht gut umgehen. Täglich gleiche Arbeitsabläufe, Struktur und klare Kommunikation können bei Neurodiversität als kleine Rettungsanker dienen.

Neurodiversität im Arbeitsteam ist ein Beispiel dafür, dass durch Vielfalt mehr erreicht werden kann. Neurodiversität ist eine Bereicherung, keine Behinderung.

Quellen:
https://www.dwi.rwth-aachen.de/seite/neurodiversitaet
https://www.uni-hamburg.de/wissen-fuer-alle/vorlesung-fuer-alle/videos/andre-zimpel.html
https://optio.ruhr-uni-bochum.de/index.php/eine-bildungsluecke-schliessen-in-der-betroffene-zurueckbleiben-neurodiversitaet/
https://diversicon.de/neurodiversitat-in-unserer-arbeitswelt/
https://www.youtube.com/watch?v=OE9GYR020E0

×