: In der Schule: Ein Mädchen hat das Heft vor sich aufgeschlagen, den Kopf auf die Hand gestützt und träumt vor sich hin. Am Gruppentisch hinter ihr sind ihre Klassenkamerad*innen eifrig beschäftigt.© Jacob Wackerhausen/iStock/Getty Images Plus
Nicht immer zeigt sich ADHS als „Zappelphilipp-Syndrom"

Aus der Psychologie

ADHS VERSTEHEN

Energetisch, impulsiv und ablenkbar: Im ersten Moment beschreibt das alle Kinder, die die Welt neu entdecken. Aber wann sind Kinder bloß wild, und wann spricht man von ADHS? Über das Krankheitsbild, mögliche Ursachen und Therapien.

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ADHS, die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, wird durch ihren Namen schon grob zusammengefasst. Fehlende Aufmerksamkeit und Unruhe. Das betont aber nicht die Einschränkungen, die Betroffene täglich erfahren.

ADHS ist eine psychische Störung, die wiederum zu Verhaltensauffälligkeiten führt. Diese zeigen sich schon im Lauf der Kindheit – ADHS ist eine der häufigsten psychischen Erkrankungen bei Kindern. Von dem frühen Beginn an begleitet sie Betroffene auch ein Leben lang – sie „verwächst“ sich nicht. Je nach Typ, Therapie und Ursache können die Betroffenen mit der Zeit aber besser mit der ADHS umgehen.

Und was ist ADS?

ADHS ist die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, während ADS nur fĂĽr Aufmerksamkeitsdefizitstörung steht. ADHS und ADS wurden frĂĽher als Begriffe entweder synonym gebraucht oder um zwei vermeintlich verschiedene Erkrankungen zu unterscheiden. Heute wissen wir es besser: ADHS ist der Ăśberbegriff fĂĽr verschiedene Subtypen der Erkrankung. Was frĂĽher ADS genannt wurde, ist ein solcher Subtyp.

ADHS – eine Erklärung

Wir wissen heute, dass bei ADHS die Hirnchemie außer Balance ist, genauer gesagt die Neurotransmitter Dopamin und Noradrenalin. Dopamin wird zu schnell aus dem synaptischen Spalt abgebaut, was die Signalweiterleitung in bestimmten Hirnregionen einschränkt.

Auch Noradrenalin, das Wachheit und Fokus steuert, ist im Ungleichgewicht. AuĂźerdem hemmt Noradrenalin den Dopamin-Abbau. Da Noradrenalin in Stresssituationen vermehrt ausgeschĂĽttet wird, wodurch mehr Dopamin zur VerfĂĽgung steht, können ADHS-Betroffene ihre Konzentration unter Stress oft besser lenken.

Die Größe und Aktivität im Frontalhirn und Striatum sind bei ADHS verändert. Menschen mit ADHS zeigen erhebliche Einschränkungen in den exekutiven Funktionen. Dazu gehören:

  • Impulskontrolle
  • Planung und Priorisierung
  • Organisation, Selbstorganisation und Motivation
  • Arbeitsgedächtnis (Dinge im Kopf behalten, um mit ihnen weiterzuarbeiten; Objektpermanenz („aus den Augen, aus dem Sinn“))
  • Soziale Interaktion
  • Aufmerksamkeit aufbauen und halten, Fokus lenken und umlenken
  • Problemlösung
  • Mentale Flexibilität (GrĂĽbeln, Schwarz-WeiĂź-Denken)
  • Sprache
  • Zeitwahrnehmung
  • Emotionale Regulation (Frust, Ă„ngste, empfundene Ablehnung, aber auch Freude)

Wie äußert sich ADHS bei Kindern im Alltag?

Damit gilt ADHS als schwere Entwicklungsstörung. Die Defizite der exekutiven Funktionen sind eng mit den Hauptsymptomen von ADHS verknĂĽpft und erklären viele Alltagsprobleme von Betroffenen. Die Leitsymptome von ADHS sind nämlich:

  • Unaufmerksamkeit: Um Aufgaben oder Tätigkeiten zu beginnen oder zu Ende zu bringen, muss ihnen der Mensch Aufmerksamkeit schenken. Durch das ADHS können sich Betroffene aber verhältnismäßig kurz auf eine Aufgabe konzentrieren, wodurch sie sich leicht von anderen Reizen ablenken lassen. In der Kindheit ist dieses Problem beispielsweise bei Hausaufgaben, Aufgaben im Haushalt oder beim Spielen erkennbar.
  • Hyperaktivität: Hyperaktivität meint eine starke körperliche Unruhe und ist als Symptom besonders im Kindergarten- und Grundschulalter präsent. Betroffene Kinder fallen durch ständige Aktivität auf, können schlecht still sitzen bleiben und auch das ruhige Spielen ist eine Herausforderung. Mit zunehmendem Alter nimmt die körperliche Aktivität oft ab, wobei man im Jugendalter eine innere Unruhe und Anspannung beobachtet. Vor allem bei Mädchen und Frauen zeigt sich die Hyperaktivität eher in Form von rasenden Gedanken als körperlich.
  • Impulsivität: Betroffene handeln unĂĽberlegt, indem sie ihren Impulsen oder ersten Einfällen nachgehen. Während das einerseits im Kindesalter gefährlich ist, da unĂĽberlegte Kletterideen oder Balancierstrecken sehr unsicher sein können, äuĂźert sich das andererseits auch in häufigem Unterbrechen oder falschen Hausaufgabenlösungen, da die Aufgabenstellung nicht korrekt durchgelesen wird. Im erwachsenen Alter lässt sich dieses Verhalten auf Impulskäufe oder spontan entschiedene Vorhaben ĂĽbertragen.

ADHS und Sucht

Menschen mit ADHS haben ein etwa viermal höheres Risiko, eine Suchterkrankung zu entwickeln, als die Allgemeinbevölkerung. Bis zur Hälfte der ADHS-Betrofennen entwickeln im Laufe ihres Lebens eine Sucht. Denn viele Betroffene nutzen Suchtmittel wie Nikotin, Alkohol oder Cannabis, um Symptome wie innere Unruhe, Impulsivität oder Konzentrationsprobleme kurzfristig zu lindern.

Durch den Dopaminmangel ist das Belohnungssystem bei ADHS zudem weniger effektiv – Suchtmittel stimulieren es. Außerdem haben Menschen mit ADHS oft ein ausgeprägtes Bedürfnis nach starken Reizen und schnellen Belohnungen („Sensation Seeking“), was sie anfälliger für riskantes Verhalten und Sucht macht.

ADHS-Typen

Die Symptome der ADHS können bei Betroffenen in unterschiedlicher Ausprägung vorhanden sein oder alle parallel stark auftreten, dies ist individuell verschieden und wird auch innerhalb der Therapie beachtet. Dieser Sachverhalt führt zu drei Untertypen:

  • Vorwiegend unaufmerksamer Typ (ehemals ADS)
  • Vorwiegend hyperaktiv-impulsiver Typ
  • Kombinierter Typ: Alle genannten Symptome sind hier voll ausgeprägt.

Wird die Diagnose ADHS gestellt, wird heute auch einer dieser drei Typen mitbenannt. Außerdem gibt es noch einen vierten Typ, denResidualtyp: Hier hat die Ausprägung der Symptome über die Zeit abgenommen, die zuvor stark ausgeprägt waren. So kann aus der gemischten Erscheinungsform im Kindesalter eine vorwiegend unaufmerksame Erscheinungsform im Jugend- oder Erwachsenenalter werden. Die Wichtigkeit regelmäßiger Therapien und der ADHS wird hier verdeutlicht. Der Residualtyp wird nicht als eigene Diagnose aufgeführt, sondern zum Beispiel als „ADHS, nicht näher bezeichnet“ oder „in partieller Remission“.

Die typischen ADHS-Symptome finden sich bis zu einem gewissen Grad in (fast) allen Kindern wieder und auch manche Erwachsene zeigen sie, ohne von ADHS betroffen zu sein. Bei der Diagnose geht es deshalb auch darum, wie stark die Symptome den Alltag Betroffener einschränken. Das hilft den betreuenden Psycholog*innen außerdem dabei einzuschätzen, welche Therapie optimal ist.

Ursachen von ADHS

Was die Ursache von ADHS ist, wird noch immer wissenschaftlich untersucht, da bisher keine eine, eindeutige Ursache erkannt wurde. ADHS als psychische Erkrankung entspricht aber der Anlage-Umwelt-Debatte aus der Psychologie. Hier wird diskutiert, inwieweit sich Genmaterial und Umfeld gegenseitig beeinflussen.

Genetik als Ursache fĂĽr ADHS

Genetische Faktoren als Ursache bei ADHS konnten durch einige Studien erwiesen werden, die einen Zusammenhang zwischen der Entwicklung und der Verteilung im direkten Verwandtenkreis feststellten. Eine weitere Beobachtung, die aber nur einen geringen Teil der Ursache von ADHS erklärt, ist die Erbinformation, die für die Bildung und den Transport von Dopamin zuständig ist, da es hier bei den Betroffenen zu den beschriebenen Veränderungen kommt.

AuĂźerdem wurde als weniger verbreitete Ursache von ADHS ein Zusammenhang zwischen belasteten Schwangerschaften und Geburten festgestellt. Drogenkonsum, zentralnervöse Infektionen sowie Schädelhirntraumata oder andere Verletzungen erhöhen das Risiko fĂĽr ADHS. Dies wird in der Diagnostik und Therapie erfragt, um Betroffene ganzheitlich betreuen zu können.

Psychosoziale EinflĂĽsse als Ursache fĂĽr ADHS

Das psychosoziale Umfeld als Ursache spielt eine groĂźe Rolle in der Entwicklung von ADHS, besonders im Kindesalter. Auch fĂĽr die Therapie ist der Einfluss des Umfelds wichtig. Der Alltag mit den direkten Bezugspersonen, ob privat oder im Schulischen, beeinflussen die Kinder, sodass entsprechende EinflĂĽsse ADHS provozieren oder als Mit-Ursache in Frage kommen:

  • Instabile Familienverhältnisse mit vielen offen ausgetragenen Konflikten in unproduktiver und traumatisierender Weise
  • Psychische Erkrankungen direkter Bezugspersonen innerhalb der Familie
  • Dekonstruktive Kritik und traumatisierende Bestrafungen
  • Inkonsequente Erziehung ohne leitende Regeln
  • Beengte Wohnverhältnisse ohne Frei- und Bewegungsraum

Diese Zustände müssen nicht zwangsläufig ADHS verursachen, wurden aber als psychosoziale Einflüsse beobachtet.

Die Therapie von ADHS

Die Therapie von ADHS umfasst medikamentöse und/oder Psychotherapie. Eigene Tricks, Hacks und Hilfestellungen ergänzen die Therapie und erleichtern den Alltag.

Arzneimittel bei ADHS

Die Medikamente fĂĽr ADHS enthalten die Wirkstoffe Methylphenidat, Dexamphetamin oder Lisdexamfetamin. Die Stimulanzien erhöhen auf verschiedene Weise den Dopaminspiegel im synaptischen Spalt und verbessern so die SignalĂĽbertragung. Atomoxetin und im Off-Label-Use Guanfacin wirken auf das noradrenerge System, sind aber keine Stimulanzien. Bupropion, ein Antidepressivum, das ebenfalls off-label eingesetzt wird, beeinflusst beide Neurotransmitter.

Der Zweck der medikamentösen Therapien ist, die klassischen Symptome von ADHS zu verringern, um den Alltagsanforderungen gerecht zu werden. Ärzt*innen entscheiden individuell, ob diese Psychostimulanzien eingenommen werden sollen. Außerdem gibt es Präparate mit schneller oder langsamer Freisetzung, die je nach Bedarf und Situation verordnet werden.

Psychotherapie

FĂĽr Betroffene von ADHS werden vor allem Verhaltenstherapien empfohlen, wobei neben den Betroffenen auch mit dem psychosozialen Umfeld gearbeitet wird, um den Umgang miteinander zu erlernen und Konflikte zu entschärfen. Mit den Betroffenen selbst wird das hyperkinetische Verhalten ĂĽberarbeitet und der Zustand erst mal erklärt, damit sie auch Verständnis gegenĂĽber sich selbst aufbringen können.

Neben den unterschiedlichen Therapien lernen Betroffene ĂĽber die Jahre den Umgang mit sich selbst und der Erkrankung ADHS kennen. So entwickeln sich eigene Ideen, die HĂĽrden im Alltag auszugleichen.
Eine speziell aufgebaute To-do-Liste beispielsweise, die dabei hilft, alltägliche Arbeiten abzuarbeiten, ohne sich in der Herausforderung zu verlieren. Eine Wohnungseinrichtung, die das Ordnunghalten erleichtert. Sportliche Bewegungen, Kreativität oder andere Hobbies gehören ebenfalls dazu.

Quellen:
Ulrich Voderholzer: „Therapie psychischer Erkrankungen. State of the Art“, Urban & Fischer Verlag/Elsevier, 17. Auflage 2022
Otto Benkert, Hanns Hippius (Hrsg.): „Kompendium der Psychiatrischen Pharmakotherapie“, Springer, 13. Auflage 2020
https://www.adhs.info/fuer-eltern-und-angehoerige/adhs-was-ist-das/
https://www.adxs.org/de/page/50/die-praesentationsformen-subtypen-von-adhs-adhs-hi-ueberwiegend-hyperaktiv-adhs-c-mischtyp-adhs-i-ads
https://adhs-perspektiven.de/exekutive-funktionen-trainieren/
https://www.spektrum.de/news/die-transmitterchemie-stimmt-nicht/1007330
https://www.gelbe-liste.de/wirkstoffe/Atomoxetin_48644
https://www.gelbe-liste.de/wirkstoffe/Lisdexamfetamin_52010
https://www.gelbe-liste.de/wirkstoffe/Dexamfetamin_51441
https://www.adhs-deutschland.de/begleitstoerungen-sucht/adhs-und-sucht
https://dassuchtportal.de/begleiterkrankungen/adhs-und-sucht/

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