Frauen sitzen verzweifelt auf Boden.© Daria Golubeva / iStock / Getty Images

Abnehmen

KONTROLLIERTES ESSVERHALTEN SCHADET PSYCHE

Was ist besser, wenn man abnehmen möchte? Ein sehr strenges, rigides oder ein eher flexibles Essverhalten? Was strenge Diätpläne und eine starre Kalorienrestriktion auf lange Sicht mit der Psyche des Menschen machen.

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Viele adipöse Menschen sind in einem Essmuster gefangen, in dem sie wellenförmig dicker und dicker werden. Der Jojo-Effekt ist ein Teilaspekt, psychisch betrachtet befinden sie sich abwechselnd in zwei Extremphasen bezüglich ihrer Ernährungskontrolle. 

Eine Phase der strengen Essens- und damit Kalorienkontrolle folgt eine Phase der ungebremsten Nahrungsaufnahme. Dann werden auch wieder unkontrolliert solche Lebensmittel konsumiert, die in der ersten Phase noch als verboten galten. Und immer mit dabei das schlechte Gewissen.

Nahrungsaufnahme als Mittelpunkt des Alltags

In der ersten Phase, der Kontrollphase, orientieren sie sich an den starren Vorgaben einer Diät. Es werden sehr streng Kalorien gezählt, viele Ernährungsverbote werden eingehalten und Lebensmittel gemieden, die die Person gerne isst. Stattdessen wird zu kalorienarmer Nahrung gegriffen, die der Person oft nicht wirklich schmeckt. Diese Extremform wird als rigides Essverhalten oder rigide Ernährungskontrolle bezeichnet.

In der Kontrollphase sind die Gedanken ans Essen überdurchschnittlich.

Die Waage ist dabei der wichtigste Erfolgsindikator, alles orientiert sich an der Zahl auf der Waage. Die zahlenorientierte Herangehensweise ist sehr rational. Dabei werden allerdings Ernährungsziele festgelegt, die langfristig niemals umsetzbar sind.

Ein diätetisch völlig unbedeutendes Ereignis, zum Beispiel ein halbes Kilogramm mehr durch Wassereinlagerung während der Menstruation, kann dieses Kontrollsystem schon komplett außer Kraft setzen. Die Person gibt die Kontrolle dann zugunsten einer zügellosen Nahrungsaufnahme auf, frei nach dem Motto „Nun ist es egal!“. 

Kontrolle begünstigt Störungen im Essverhalten

Die zweite Phase ist eine weitere Extremform. In dieser häufig sehr unkontrollierten Phase werden endlich wieder die verbotenen Lebensmittel konsumiert, auf die der Diät-Willige so lange verzichten wollte. Ihm gelingt es dann jedoch nicht, ein Maß an den hochkalorischen Naschereien zu halten, es findet eine zügellose Nahrungsaufnahme statt. Häufig geprägt mit anschließendem schlechtem Gewissen. 

Vom Verstand her wissen adipöse Menschen, dass sie weiterhin ein kontrolliertes Essverhalten umsetzen müssten. Das Selbstwertgefühl sinkt durch das ständige Scheitern immer mehr. Studien zeigen, dass Menschen mit einem rigiden Kontrollsystem einen höheren BMI haben als Menschen mit flexibler Ernährungskontrolle. Darüber hinaus werden durch das rigide Essverhalten, Störungsmuster im Essverhalten entwickelt.

Essen ist nicht rational…

Warum ergeht es so vielen Menschen so? Erfahrungen und Berichte aus restriktiven Diätprogrammen sowie Empfehlungen der Medien zum Thema starre Kontrolle, Verbote und Kalorienzählen wirken rational betrachtet erstmal sehr vielversprechend. Gesundheitlich würde es einen hohen Mehrwert bringen, wenn es dauerhaft umgesetzt würde. Menschen und deren Verhaltensweisen funktionieren jedoch nicht zu 100 Prozent rational.

Zwischen Wissen und der langfristigen Umsetzung besteht eine Kluft. In dieser Kluft müssen Dinge wie Gefühle, Einstellungen, Denkmuster, Alltagsbedingungen und einiges mehr berücksichtigt werden.

…es ist emotional, wie folgendes Beispiel zeigt

Frau Lange* besuchte die erste Ernährungstherapiesitzung im Sommer 2020 mit einem BMI von 45. Seit ihrer Kindheit war sie übergewichtig und vor allem ihre Großmutter setzte sie bereits in jungen Jahren sehr unter Druck, was Gewicht und Abnehmen betraf. Dabei war die Großmutter einerseits eine emotional nahe Bezugsperson, andererseits genügte Frau Lange ihr nie.

Es fehlte die Anerkennung, was Aussehen und Essverhalten betrafen. Natürlich war die Intention der Großmutter positiv gemeint. Sie wollte, dass das Kind gesund werde. Jedoch entwickelte sich bei Frau Lange ein negatives eigenes Körperbild mit viel Scham und das eigene Essverhalten wurde negativ beeinflusst. 

Frau Lange absolvierte bis zum Sommer 2020 in regelmäßigen Abständen starre Diätmaßnahmen, durch die sie kurzfristig Körpergewicht verlor und langfristig wieder zunahm – der klassische Jojo-Effekt. Alle Faktoren der in Tabelle 1 dargestellten rigiden Ernährungskontrolle wurden bei ihr bestätigt. Frau Lange klagte mittlerweile über wiederkehrende Essanfälle, was auch als Binge Eating Disorder (BED) bezeichnet wird. 

Sie entwickelte durch die starren Muster, wie beispielsweise ab 18 Uhr nichts mehr essen, Heißhungerattacken am Abend, die sich mit der Zeit immer mehr steigerten. Darüber hinaus beschrieb sie in ungezügelten Phasen ein impulsives und emotional gesteuertes Essverhalten. Sie aß, wenn der Stresspegel deutlich erhöht war, wenn sie traurig war und vor allem, wenn sie sich einsam fühlte. 

Bisher hatten alle rigiden Maßnahmen immer einen Fokus auf Ernährungswissensvermittlung gesetzt. Und tatsächlich hatte sich Frau Lange viel mehr Ernährungswissen angelesen als der Durchschnitt der Bevölkerung. Essverhaltensarbeit war bisher jedoch kein Thema.

Langfristige Erfolge fordern Flexibilität

Der Erfolg von Frau Lange zeigt, wie relevant das Einbeziehen des Verhaltens und einer Gewissen Flexibilität bei einer langfristig angelegten Ernährungsumstellung ist. Restriktive Diäten sowie starre Ernährungsmuster haben nicht nur einen negativen Effekt auf den Körper, sondern können auch das Auftreten von Essstörungen begünstigen.

Das Essverhalten unter die Lupe nehmen

Frau Lange nahm an einer Ernährungstherapie teil, in der Methoden zur Reflexion, Akzeptanz und Veränderung von Essverhalten im Fokus standen. Mittels des Fragebogens „Essverhalten“ von Pudel/Westenhöfer wurde das Verhalten in den Kategorien „Gezügeltes Essverhalten“, „Störbarkeit“ und „rigide/flexible Kontrolle“ zu Beginn der Therapie und zwei Jahre später festgehalten. 

Selbstbeobachtungen, Achtsamkeitsübungen zum Essverhalten und verschiedene Motivations- und Zielmodellübungen waren Teil der Therapie, um Schritt für Schritt einerseits flexible Bausteine der Ernährungskontrolle aufzubauen und andererseits Störbarkeit abzubauen.

Die unkontrollierten Essanfälle waren zu Beginn des Jahres 2022 für Frau Lange kein Thema mehr. Tabelle 2 zeigt die Entwicklung des Essverhaltens von Frau Lange, seitdem der Fokus auf Essverhaltensänderungen statt auf rigide Maßnahmen mit Ernährungswissensschwerpunkten gesetzt wurde.

Unsere Autorin Sabrina Thaden ist Ernährungstherapeutin. Mehr zu ihrer Person und ihrem fachlichen Hintergrund finden Sie unter www.nutrition-master.de

*Name geändert

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