Wasserhahn auf schwarzem Hintergrund der tropft© Geckly / iStock / Getty Images Plus
Unkontrollierbarer Urinverlust gehört für viele Menschen in Deutschland zum Alltag.

S2k-Leitlinie

ERSTE LEITLINIE ZU HARNINKONTINENZ VERÖFFENTLICHT

Harninkontinenz ist zwar weit verbreitet, aber immer noch ein Tabuthema. Vor allem Frauen sind betroffen. Um die Behandlung der Betroffenen zu vereinheitlichen, ist nun vor kurzem die erste S2k-Leitlinie zu dieser Thematik erschienen.

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Es tröpfelt und man kann es nicht aufhalten: Unkontrollierbarer Urinverlust gehört für viele Menschen in Deutschland zum Alltag. Rund zehn Millionen Bundesbürger leiden unter Harninkontinenz, wobei die Dunkelziffer noch deutlich höher liegen dürfte. Denn über dieses Problem spricht niemand so richtig gern. 

Neben den Gesundheitsproblemen sind auch die psychosozialen Komponenten nicht zu unterschätzen. Betroffene sind durch die Erkrankung massiv beeinträchtigt, die Lebensqualität leidet. Um die Behandlung von Patientinnen zu vereinheitlichen, hat die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V. (AWMF) nun erstmals eine Leitlinie veröffentlicht. 
 

Verbesserte Behandlungsoptionen

„Die vorliegende Leitlinie verfolgt das Ziel, alle wissenschaftlich relevanten Informationen zur Belastungskontinenz und Überaktiven Blase/Dranginkontinenz zu bündeln, die bislang in getrennten Leitlinien dargestellt wurden“, erklärt Professor Anton Scharl, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe e. V. (DGGG). Zudem wurde der diagnostische Teil zur Beckenbodensonographie bei Harninkontinenz einer weiteren Leitlinie in diese zusammenfassende Handlungsempfehlung integriert.

Unter der Federführung der DGGG mit Beteiligung vieler weiterer Fachgesellschaften lagen die zentrale Punkte zur Erarbeitung der Leitlinie auf den diagnostischen Ansätzen und unterschiedlichen Therapieformen von Harninkontinenz. Innerhalb der Richtlinie geht es um Empfehlungen zur Therapie von erwachsenen Frauen im ambulanten sowie stationären Versorgungsbereich. 

„Mit der neuen S2k-Leitlinie ist eine umfassende Darstellung der Harninkontinenz gelungen, die dazu beiträgt eine angemessene Versorgung der betroffenen Frauen in Diagnostik und Therapie zu garantieren und individualisierte Behandlungsoptionen zu verbessern.“, so Professor Dr. Christl Reisenauer (Tübingen), DGGG-Leitlinienkoordinatorin.
 

Verschiedene Arten der Inkontinenz verschieden behandeln

Die Autorinnen und Autoren  sind der Überzeugung, dass eine ausführliche und sorgfältige Anamnese den ersten und vor allem wichtigsten Schritt bei der Behandlung darstellt. Wichtig ist außerdem, auch die Untersuchungs- und Behandlungserwartungen der Patienten zu erfassen. Da es verschiedene Arten der Harninkontinenz gibt, muss auch hinsichtlich verschiedener Therapiewege unterschieden werden. So gibt es beispielsweise 

  • die Belastungsinkontinenz, 
  • Mischharnkontinenz oder 
  • Dranginkontinenz. 

Je nachdem, unter welcher Art der Erkrankung die Patientin leidet, muss eine konservative, medikamentöse oder operative Therapie angewandt werden. 
Bei der konservativen Therapie werden einfache klinische Maßnahmen, lebensstilbezogene Interventionen, wie etwa Koffeinreduktion, körperliche Aktivität, Gewichtsreduktion, und individuelle Verhaltens- und Physiotherapie, empfohlen. Wird eine medikamentöse Therapie herangezogen, kommen je nach Ausprägung der Harninkontinenz entsprechende Arzneimittel in Frage. Sollten sowohl die konservative, als auch die medikamentösen Maßnahmen nicht anschlagen und zu einer Verbesserung führen, sieht die Leitlinie individuelle operative Therapien vor. Am Ende der Leitlinie geht es zudem noch um die Diagnose und Behandlung von urogenitalen Fisteln, die eine Harninkontinenz herbeiführen können.

Arzneimittel bei Harninkontinenz
Die Leitlinie empfiehlt bei überaktiver Blase, Dranginkontinenz oder Mischharnkontinenz Antimuskarinika (Darifenacin, Fesoterodin, Oxybutynin, Propiverin, Solifenacin, Tolterodin, Trospium) oder den Beta3-Agonisten Mirabegron.
Bei  Belastungsinkontinenz empfiehlt sie Duloxetin.
Bei menopausal bedingter Belastungs-, Drang- und Mischharnkontinenz empfiehlt die Leitlinie auch Östrogen-Präparate.
Wenn Patienten nachts häufig urinieren müssen und davon in in ihrer Lebensqualität beeinträchtigt werden (Nykturie) und wenn ein niedriger nächtlicher Argenin-Vasopressin-Spiegel die Ursache ist, empfiehlt die Leitlinie Desmopressin.
Für eine klare Empfehlung von Phytotherapeutika ist die Studienlage zu schwach. Hinweise auf eine positive Wirkung liefern Bryophyllum pinnatum, Gosh-jinki-gan und Weng-li-tong aus der traditionell chinesischen Medizin, die Kombination aus Crataeva nurvala, Acker-Schachtelhalm und Lindera aggregata, bei Männern Extrakte des Glänzenden Lackporlings, bei Frauen Kürbissamen.
Zu homöopathischen Präparaten liegen kaum Studien vor. Es gibt Hinweise, dass Gelsemium spasmolytisch und antientzündlich wirken könnte. Im Bereich der Nahrungsergänzungsmittel fehlen ebenfalls größere Studien, eingesetzt werden können die antioxidativen Vitamine A, C und E sowie Carotinoide, Zink und Selen
 

Leitlinie orientiert sich an der Patientin

„Diese Leitlinie bietet ein breites diagnostisches und therapeutisches Instrumentarium, dessen Anwendung sich am Leidensdruck und an der Therapiemotivation der Patientin orientiert. Eine fachgerechte Diagnostik und eine gut fundierte Beratung kann jeder betroffenen Frau die Chance auf eine individualisierte Behandlung eröffnen“, so Privatdozent Dr. Gert Naumann (Erfurt), DGGG-Leitlinienkoordinator.
An der Erstellung der Leitlinie waren insgesamt 32 Autorinnen und Autoren aus elf Fachgesellschaften aus Deutschland, Österreich und der Schweiz beteiligt. Insgesamt umfasst die Richtlinie 262 Seiten. Das Leitlinienprojekt wurde finanziell durch das DGGG-Leitlinienprogramm unterstützt. 

Quellen: 
https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/015-091l_S2k_Harninkontinenz-der-Frau_2022-03.pdf  
https://idw-online.de/de/news789554
 

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