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Schmöker des Monats

OH WILLIAM!

Lucy Barton geht noch einmal auf Reisen. Und zwar mit ihrem Exmann. Der heißt William und braucht sie sehr, obwohl sie schon längst nicht mehr miteinander verheiratet sind. Zusammen gehen sie einem Familiengeheimnis nach.

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Die junge Lucy hat einmal ihre große Liebe geheiratet und war immer ein wenig erstaunt, dass ihr William sie erwählt hatte. Der fesche Doktorand liebte die ihm anvertraute Studentin sehr, und so kam sie mirnichtsdirnichts in die amerikanische Haute volée; sie, die aus brutal einfachen Verhältnissen stammt: Ihre Mutter fasst die Kinder nur an, wenn sie sie schlägt, und wer lügt, bekommt den Mund mit Seife ausgewaschen. Ganz anders William: Der Junge wächst in einer reichen Familie auf, aber dass seine an sich liebevolle, empathische Mutter ihn zu früh in den Kindergarten gibt, weil sie immer wieder „den Blues“ hat, das ist doch reichlich merkwürdig.

Noch merkwürdiger, dass sie es der Kindergärtnerin verbietet, ihn tröstend auf den Arm zu nehmen. Elizabeth Strout, Pulitzer-Preisträgerin und in Amerika hochberühmt, hat bereits zwei Romane über Lucy geschrieben. Die ist dem Leser natürlich sympathisch: Immer ein wenig erstaunt über die Welt, in die sie hineingeraten ist und in der sie sich oft nicht orientieren kann, wird sie Schriftstellerin. Prunk lehnt sie ab, Gekünsteltes ist ihr fremd.

Der steinreiche William ist ihr in tiefer Neigung verbunden, aber er betrügt sie leider fortwährend. „Ich habe nie eine von ihnen geliebt“, sagt er in diesem Buch, er ist jetzt siebzig, ach ja. Lucy verlässt ihn, heiratet einen Cellisten, die Ehe ist sehr glücklich. William heiratet auch, zweimal sogar, und dann stirbt Lucys Mann und Williams dritte Frau verlässt ihn, schon wieder.

Keiner kennt einen so gut wie der Expartner Lucy und William sind jetzt so eine Art Patchworkfamilie, mit ihren zwei erwachsenen Töchtern und der kleinen Halbschwester. Sie sind nicht zusammen, sie leben nicht in einer Wohnung, aber sie sind auf untrennbare Weise miteinander verbunden. Keiner kennt einen schließlich so gut wie der oder die Ex. Und wenn man mal siebzig ist, tut wohl hoffentlich auch nichts mehr weh.

Lucy, sie kennt noch Williams kapriziöse Mutter, was ihr einen großen Vorteil verschafft gegenüber all den anderen Damen in Williams Leben: Kennt man die Verwandtschaft, versteht man auch den Sohn. Und man weiß, dass es Strukturen gibt, aus denen ein Mensch im ganzen Leben nicht mehr hinauskommt, ohne es zu wollen, oft sogar ohne es zu wissen.

Vorweg gesagt: Dieser Roman ist keine Herz-Schmerz-Geschichte, in der die beiden Hauptdarsteller am Ende à la Rosamunde Pilcher wieder zusammenkommen. Nein, es ist ein ausgesprochen lebenskluges Buch und nur vordergründig ein Roadmovie mit zwei alternden Heroes. Es stehen viele schlaue Sätze drin, die man vielleicht erst etwas später im Leben versteht. Elizabeth Strout verfügt über eine federleichte Sprache und sie hat diese Eigenschaft wirklich großer Autoren: jeder Satz ein Treffer. Die Handlung plätschert dahin, aufregendes passiert nicht, aber am Ende steht dann doch eine Familiengeschichte, die es in sich hat, mehr soll nicht verraten werden.

Lucy googelt, für William Das Buch ist von einer Frau geschrieben – ich glaube, kein Mann könnte sich wahrscheinlich so hineinspüren. Daran, dass Williams Khaki-Hosen zu kurz sind und man seine Socken sieht, erkennt Lucy, dass seine Frau ihn verlassen hat. Auf ihre Ankündigung damals, dass sie ihn verlassen würde, sagt er, mehr erstaunt als getroffen: „Aber du weißt doch, dass ich nicht allein sein kann!“ (Er heiratet dann sofort wieder, nämlich seine letzte Affäre, aber das geht natürlich schief.) Und, auch das gründet auf Lebenserfahrung, sein Anruf nach ihrer Reise: Er habe da eine Frau kennen gelernt, würde Lucy die bitte mal googeln? „Und er gab mir den Namen einer Frau durch, und als ich sie googelte, sagte ich sofort: „Nein, wirklich, sie passt nicht zu dir.“

Und er sagte: „Danke dir, Lucy.“ „In den Jahren, in denen William und ich beide allein waren, zwischen unseren diversen Ehen, war das ein Dienst, den wir einander erwiesen, Ratschläge dieser Art.“ Das muss wohl Liebe sein. Und diese Liebe jenseits des Sexuellen, das ist es, was die Autorin so meisterhaft beschreibt. In einer Zeit, in der Ehen nicht mehr unauflöslich sind, in der Scheidungen gesellschaftliche Realität und akzeptiert sind, muss da etwas anderes entstehen – wertvoller gar?

Jede große Liebe hat wohl einen unzerstörbaren Kern, und diesen beschreibt Elizabeth Strout so gut. Sie selbst ist mit einem berühmten US-Politiker verheiratet und hat irgendwann zur Schriftstellerei gefunden, auch das eine Parallele zum Roman, der vielleicht ein klein wenig oder sogar ganz viel Biografisches hat.

Frisur ändert sich, das Leben auch Als William nach Auflösung der Familiengeschichte schlussendlich bei Lucy in der Wohnung steht, merkt sie, dass er sich verändert hat. Auch so etwas kann nur eine Frau schildern: William hat sich nämlich den Schnauzbart abrasiert und die wirren weißen Haare gekürzt, mit denen er immer ein bisschen wie Einstein aussah – „aber nicht so irr“. Warum? „Ich dachte, ich probiere mal was Neues.“ Das und die inzwischen zu langen neuen Hosen sagen der geneigten Leserin sofort: Hier hat sich wirklich was getan.

Lucy erkennt: Die Autorität, die William sein ganzes Leben lang wie eine Aura umgeben hat, ist verschwunden. Jedenfalls für sie. Er bittet sie, noch einmal mit ihm auf die Kaiman-Inseln zu fahren, jetzt, am Sonntag schon, er habe bereits alles gebucht. Ein Satz nur, den jede Ex kennt, die inzwischen wieder mit ihrem Mann befreundet ist: „Oh William“, sagt Lucy: „Du machst mich fertig.“ Er zuckt die Achseln und schiebt die Hände in die Hosentaschen und er nickt Richtung Boden: „Schau“, sagt er. „Die ist jetzt aber nicht zu kurz, oder?“

Den Artikel finden Sie auch in DIE PTA IN DER APOTHEKE 04/2022 ab Seite 124.

Alexandra Regner, PTA und Medizinjournalistin

Elizabeth Strout Oh William!
Hardcover mit Schutzumschlag Luchterhand, 224 Seiten, 20 Euro ISBN: 978-3-630-87530-9

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