Kind sitzt auf Fenstersims.© Cameron Bloom

Bücher, von denen man spricht

WIEDER FLIEGEN LERNEN

Bei einem Familienurlaub in Thailand bricht das Schutzgitter der Aussichtsplattform: Die dreifache Mutter Sam Bloom stürzt sechs Meter in die Tiefe. Danach ist sie querschnittsgelähmt. Ausgerechnet ein kleiner Wildvogel hilft ihr aus größter Dunkelheit.

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Es gibt in Australien und Tasmanien eine Vogelart, die unserer Elster sehr ähnelt: Schwarz-weiß gefiedert, etwa 40 Zentimeter groß, laut und furchtlos. Sie singt schön und deshalb lautet ihr Name hierzulande auch Flötenvogel. Die Australier nennen die Tiere Magpie. Sie haben einen leicht schrägen Humor, können sehr zahm werden und Stimmen hervorragend imitieren, wenn man sie von Hand aufzieht.

Klein, niedlich, hilflos Die Tatsache, dass ein kleiner Junge ein Vogelküken mit gebrochenem Flügel mit nach Hause brachte, ist nicht das Bemerkenswerte – doch da er ihn seiner Mutter brachte, die seit ihrem Unfall schwer depressiv in ihrem Rollstuhl saß und ihren Suizid bereits heimlich minutiös geplant hatte, kommt dem große Bedeutung zu. Sam Bloom war eine aktive, sportliche und unabhängige Frau, die mit ihrem Mann Cameron den Traumpartner gefunden hatte. Er ist ein preisgekrönter Fotograf. Beide haben drei Kinder im Grundschulalter. Als das Furchtbare geschieht, bricht ihre Wirbelsäule zwischen T6 und T7, also in Brusthöhe, und ihr bisheriges Leben ist vorbei: nie mehr surfen gehen, keine Abenteuerreisen mehr.

Sie würde nie wieder laufen können, nie wieder auf eigenen Füßen stehen, sich niemals mehr ohne fremde Hilfe aufsetzen können: „Ich brach in Tränen aus, als ich das hörte, und ehrlich gesagt habe ich mit dieser Tatsache seither pausenlos zu kämpfen.“ Sam Bloom beschönigt nichts in diesem Buch. Jeden Morgen, den sie aufwacht, stirbt sie ein wenig, sagt sie. Sie trauert um das Leben, das ihr genommen und ihrer Familie gestohlen wurde. Und doch hat sie es geschafft. Wie das geschah, erzählen zwei Bücher mit dieser wahren Geschichte, das eine stammt von ihrem Mann, das andere von ihr selbst.

Penguin braucht es warm und kuschelig Penguin, deren ornithologisch korrekter Name Gymnorhina tibicen lautet, stammt aus der Familie der Würgerkrähen und ist überhaupt nicht mit Elstern verwandt. Trotzdem nannte sie jeder so, weil das kleine Weibchen genauso aussah und auch einen Hang zum – nun ja – Klauen von Gegenständen hatte. Penguin also wurde von Hand aufgezogen, denn ihre Überlebenschancen standen damals noch schlechter als die ihrer Herrin direkt nach ihrem Unfall.

Alle zwei Stunden will sie etwas zu fressen haben, wie das bei kleinen Vögeln so ist. Sie möchte es warm haben, sie möchte kuscheln mit ihrer Familie – und das sind die Blooms. Penguin erholt sich, und der Tag, an dem sie das erste Mal durchs Haus fliegt, ist ein großer Tag: „Bei allem Respekt für die Gebrüder Wright und ihren historischen Jungfernflug im Jahre 1903 – für Familie Bloom fand der bedeutsamste erste Flug aller Zeiten in ihrem Wohnzimmer statt“, notiert der Vater, und er wäre nicht Fotograf, wenn er nicht sämtliche bedeutenden Meilensteine dieses Elsternlebens mit seiner Kamera festgehalten hätte.

So entsteht dabei auch eine Dokumentation über seine Frau, die langsam zurück ins Leben findet, begleitet von einem kleinen schwarz-weißen Vogel. Sams Rollstuhl wird zu Penguins zweitem Zuhause. Sie werden unzertrennlich. „Immer schaute einer nach dem anderen. Sie war“, erinnert sich Cameron, „unsere furchtlose Liebesbotschafterin und leitende Motivationsbeauftragte.“

Therapeutische Flötentöne Der Flötenvogel hüpft neben den großen Rädern des Rollstuhls her, hört Sams Tiraden zu, antwortet mit seinem schönen Ruf, und wenn sie nichts sagt, schweigt auch er. Wenn er merkt, dass sie trübsinnig wird, erzählt er ihr etwas in der Vogelsprache. Penguin legt sich neben sie aufs Kopfkissen – auf den Rücken, die Beine in die Luft gestreckt – beobachtet ihre Versuche des therapeutischen Malens am Gartentisch, und als ihr langweilig wird, haut sie sich mittendrauf aufs Bild und nimmt ein Sonnenbad.

Dass ihr Frauchen vor Lachen fast aus dem Rollstuhl fällt, stört sie wenig. Sie setzt sich auf die Gemüsereibe, während sie benutzt wird, schaut dem Sohn beim Zähneputzen in den Mund, trainiert mit einer kleinen Hantel genauso wie Sam. Cameron nimmt alles durch die Linse der Kamera wahr, schafft Makroaufnahmen von ungewöhnlicher Nähe und Direktheit. Penguin mit dem Kopf unterm Lampenschirm, Penguin im Arm des Kindes, scheinbar lesend, Penguin mit Schal um den Hals – der Vogel macht jeden Blödsinn mit und denkt sich selbst noch mehr Quatsch aus.

„Sie war zu unserer mutigen und liebevollen Beschützerin geworden – und für mich zu einer echten Inspirationsquelle“, beschreibt es Sam. „Mit ihrem glänzenden Gefieder und dem blanken Schnabel hätte ich sie eine Himmelsgöttin nennen mögen, wäre da nicht das heillose Durcheinander gewesen, das sie überall im Haus anrichtete.“ Penguin, so witzig sie sein konnte, stibitzt sogar den Teebeutel aus der Tasse und kackt gern auf weiße Sofakissen. Also muss sie ausziehen, auf den großen Franpigani-Baum vor dem Haus. Dort erwartet sie die Jungs, wenn sie aus der Schule kommen, mit ihren Flötentönen. Sie sitzt mit der Familie auf der Terrasse und schleicht sich heimlich ins Haus, wenn irgendwo ein Fenster aufsteht. Manchmal finden Sam und Cameron sie zwischen sich, wenn sie morgens aufwachen – auf dem Rücken liegend, die Beine in die Luft gestreckt.

Raus aus dem Rollstuhl, rein ins Kajak Sie selbst habe am Anfang gar nicht begriffen, dass sie – indem sie Penguin beim Gesundwerden half – auch ihre eigene Heilung voranbrachte, sagt Sam. „Ich hatte gedacht, ich würde ihr Leben retten, aber in Wahrheit rettete sie meins.“ Die querschnittsgelähmte Frau beginnt mit dem Kajak zu trainieren, um wieder beweglich zu werden. Es wird ihre große Passion, und sie nimmt später sogar für die australische Nationalmannschaft an den Paralympics teil.

Sie wagt sich wieder aufs Surfbrett, und was sie nie zu hoffen gewagt hatte, wird Wirklichkeit: Weltmeisterin im Parasurfen. Als die Familie von den Paralympics nach Hause kommt, ist Penguin weg: Voll ausgewachsen, „war es nun Zeit für sie, sich irgendwo ein eigenes Nest zu bauen und ihr Revier abzustecken. Wir vermissten sie schrecklich und vermissen sie noch heute, aber es macht mich auch froh, dass sie schließlich ihren eigenen Platz in der Welt gefunden hat“, beschreibt es Sam. Das erste Buch wird ein Bestseller und sogar verfilmt. Das zweite, es liegt nun vor.

Diesen Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 02/2022 ab Seite 120.

Alexandra Regner, PTA und Medizinjournalistin

Cameron Bloom, Bradley Trevor Greive
Penguin Bloom 
– Der kleine Vogel, der unsere Familie rettete Hardcover mit Schutzumschlag, Penguin Verlag, 208 Seiten, 20 Euro ISBN: 978-3-328-60220-0

Sam Bloom, Bradley Trevor Greive
Wieder fliegen lernen Meine Geschichte 
mit Bildern von Cameron Bloom Hardcover mit Schutzumschlag, Penguin Verlag, 240 Seiten, 20 Euro ISBN: 978-3-328-60230-9

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