Giraffen.© Pascale Gueret / iStock / Getty Images

Bücher, von denen man spricht

ALS DIE GIRAFFE NOCH LIEBHABER HATTE

Wenn ein Medizin-Professor in den Ruhestand geht, züchtet er entweder Rosen – oder er schreibt. In diesem Fall und zu unserem Glück hat Michael Lichtwarck-Aschoff das literarische Sachbuch gewählt: witzig, sinnig und sprachgewaltig.

Seite 1/1 4 Minuten

Seite 1/1 4 Minuten

Das Buch „Als die Giraffe noch Liebhaber hatte“ handelt von vier Wissenschaftlern, die in ihre bahnbrechenden Entdeckungen eher, nun ja, hineingestolpert sind. Étienne Geoffroy Saint-Hilaire beispielsweise, der erstmals postulierte, dass Vögel von urzeitlichen Reptilien abstammten und einen einheitlichen Bauplan zwischen Wirbeltieren und Wirbellosen vermutete, darüber mit seinem Kollegen Georges Cuvier in heftigen Streit geriet – was als „Pariser Akademiestreit“ in die Wissenschaftsgeschichte einging.

Lichtwarck-Aschoff beweist hier erstmals sein Geschick, die wahren Geschichten in einen ungewöhnlichen Kontext einzubetten: Hier sitzt der alte, fast blinde und inzwischen in den Ruhestand getretene Hilaire tagsüber auf einer Parkbank im Zoo und erzählt einem schwarzen Wärter von seiner Zuneigung zu einer Giraffe – die damals, um 1830, in Frankreich als erstes exotisches Wildtier dieser Art eine fast hysterische Bewunderung erfuhr.

Fast nebenbei erfährt der Leser von Hilaires Forschungen und dass er der Begründer der Teratologie und ein Taktgeber der modernen Evolutionstheorie war.

Vater der chemischen Revolution Antoine Laurent de Lavoisier begleiten wir in der zweiten Erzählung auf dem Weg zum Schafott. Leider ließen ihn die Franzosen nämlich in den aufgeheizten Wochen der französischen Revolution hinrichten, was sie später sehr bedauerten. Lavoisier (1743 – 1794) ist jener Wissenschaftler, der uns die Redoxgleichungen beschert hat, denn er entdeckte als erster per Beweis das Sauerstoffmolekül und dessen Eigenschaft, Reaktionen zu provozieren.

Er widerlegte damit die Phlogistontheorie, ein aus heutiger Sicht wirres Konstrukt aus Meinung und Deutung, und die von einer geheimnisvollen Substanz handelte, die man stets hoffte zu entdecken. Lavoisier ist der Vater der modernen Chemie und er „erfand“ die Säulen der experimentellen Wissenschaft, indem er erstmals ein paar Dinge klarstellte: Um irgendetwas zu beweisen im Labor, macht man zum ersten ein vorher genau definiertes Experiment, schreibt das Ergebnis zweitens auf und zieht danach drittens seine auf Fakten beruhenden Schlussfolgerungen.

Das ist ein großer Unterschied zum „wissenschaftlichen“ Geschwurbel seiner Vorgänger, die sich mehr als Philosophen sahen und manch atemberaubende Theorie aufstellten. Lavoisier entwickelte das Massenerhaltungsgesetz und ist dafür verantwortlich, dass wir PTA endlich verstanden haben, was im Körper passiert, wenn eine Kautablette Hydrotalcit den säurelastigen Mageninhalt verwandelt, denn was es mit Säuren und Basen auf sich hat, schrieb er ebenfalls fein säuberlich auf. Er setzte auch erstmals den Verbrennungswert von Nahrung fest.

Wussten Sie, dass das Wort „Kalorie“ nicht zufällig vom lateinischen calor = Wärme stammt? Madame Lavoisier hat sich dazu nämlich in eine mit Eis umhüllte Kammer gelegt. Während ihr Körper verdaute, was sie vorher gegessen hatte – ein Ei, Entenfleisch oder einen Apfel -, maß der Labordiener die Menge des von ihrer Körperwärme geschmolzenen Eises. Eine Kalorie ist daher die Energiemenge, die es braucht, um ein Gramm Wasser um ein Grad Celsius zu erwärmen. Diesem Labordiener hat der Autor des Buches nun endlich ein Denkmal gesetzt, der weiß nämlich: „Wer nichts versteht, beschreibt die Dinge genauer.“

Der erste Impfling Weiter geht’s mit Joseph Meister, dem ersten Menschen, der eine Tollwutimpfung erhielt. Louis Pasteur hat sie ihm verabreicht, aus dem getrockneten Rückenmark infizierter Kaninchen. Der kleine Joseph war zuvor vierzehnmal vom Hund des Jagdpächters gebissen worden. Das Tier biss überhaupt alles, was ihm vor die Schnauze kam, auch seinen Herren, und er hatte Sägemehl gefressen, was man damals für einen eindeutigen Beweis für die „Hundswut“ hielt.

Pasteur unternahm ein aus heutiger Sicht ethisch bedenkliches Experiment, denn er spritzte dem Kind nicht nur das, was er für eine „Impfung“ hielt, sondern injizierte ihm später dann auch virulente Viren – um zu beweisen, dass der Junge in der Zwischenzeit Immunität erlangt hatte. Gottseidank ging es gut. Louis Pasteur hatte Antikörper erzeugt, ohne aber eigentlich zu wissen, was er tat. Es gab damals durchaus Gegner dieser medizinischen Pioniertat, und einer seiner vehementesten Gegner erzählt hier die Geschichte.

Alphonse ist Apotheker – das konnte man 1885 noch sein, ohne irgendeine Ahnung von Pharmazie zu haben – und sieht das Geschäft für seine Kräutertinkturen gefährdet. Absoluter Renner ist eine Frostschutzsalbe, die dermaßen heiß begehrt bei den Ehepaaren ist, dass eine Ahnung von Spanischer Fliege, also Cantharidin nahe liegt – das Viagra der damaligen Zeit. Lichtwark-Aschoff erzählt hier von fanatischen Impfgegnern, wobei Ähnlichkeiten zu aktuellen Ereignissen wohl nicht ganz zufällig sind.

Begründer der Toxikologie Der berühmte, aber heute fast vergessene Physiologe Claude Bernard beschließt dieses Buch; Lichtwarck-Aschoff nimmt sich seiner biografischen Eckdaten an und konstruiert eine Geschichte um ein uneheliches Kind. Bernard war wie Lavoisier einer, der auf dokumentierte Fakten setzte – und dafür bevorzugt Tierversuche unternahm, für die ihn seine eigene Frau verklagte. Er beschrieb die Homöostase und entdeckte die Bedeutung des Pankreassekrets für die Fettverdauung, isolierte außerdem erstmals das Glykogen aus der Leber.

Er bestand darauf, dass eine wissenschaftliche Hypothese immer von einem Experiment verifiziert werden musste – was er besonders gern mit Curare an Fröschen unternahm. Bernard war Winzersohn und untersuchte außerdem die Bedeutung von Sonnenlicht auf das Pflanzenwachstum, weshalb er die elterlichen Rebstöcke mit schwarzen Umhängen versah. So macht Wissenschaft Spaß!

Der Autor hat’s drauf, weiß, wovon er spricht und bekam wohl nicht umsonst zahlreiche renommierte Preise für seine erzählenden Sachbücher. Das vorliegende Buch war damit so erfolgreich, dass der Verlag ihm eine aktualisierte Neuauflage spendiert hat – gut, dass Michael Lichtwarck-Aschoff sich nicht fürs Rosenzüchten entschieden hat.

Den Artikel finden Sie auch in DIE PTA IN DER APOTHEKE 05/2022 ab Seite 116.

Alexandra Regner, PTA und Medizinjournalistin

Michael Lichtwarck-Aschoff Als die Giraffe noch Liebhaber hatte
Hardcover, Hirzel Verlag, 204 Seiten, 24 Euro ISBN: 978-3-7776-3111-0

×