Eine junge Frau mit pinken und violetten Haaren sitzt allein auf einer Parkbank und nutzt ein Tablet.© Alfonso Soler/iStock/Getty Images Plus
Wenn Autistinnen zurückhaltend sind, fallen sie damit weniger auf als Autisten, deshalb werden sie öfter erst im Erwachsenenalter diagnostiziert.

Neurodiversität

AUTISMUS-SPEKTRUM-STÖRUNG: EINE MODEKRANKHEIT?

Immer mehr Menschen, insbesondere Erwachsene, scheinen an einer Autismus-Spektrum-Störung zu leiden. Ist Autismus eine Modekrankheit? Welche Symptome oder Anzeichen gibt es? Und stimmt es, dass alle Autisten sozial schwierig, in sich gekehrt und emotional schwer erreichbar sind?

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Laut aktueller Forschung ist etwa ein Prozent der Menschen weltweit von einer Autismus-Spektrum-Störung betroffen. Dabei gibt es kein einheitliches klinisches Bild, die Symptomatik ist äußerst individuell und kann sich im Laufe des Lebens verändern. Der Weg zur Diagnose ist oft lang und zermürbend. Gerade bei Mädchen kann die Autismus-Spektrum-Störung bis ins Erwachsenenalter unentdeckt bleiben.

In den letzten Jahren nahmen die Diagnosen von Autismus-Spektrum-Störungen bei Erwachsenen auffällig stark zu. Auch Social Media prägt dieses Bild. Personen des öffentlichen Lebens sprechen vermehrt über ihre Symptome. Doch erkranken wirklich mehr erwachsene Menschen an einer Autismus-Spektrum-Störung?

Autismus-Spektrum-Störung: Definition

Eine Autismus-Spektrum-Störung ist laut ICD-11 eine neuronale Entwicklungsstörung, deren Symptome die soziale Interaktion und Kommunikation betreffen. Auch starre, sich wiederholende Verhaltensmuster sind typisch. Eine Unterteilung in frühkindlichen, atypischen Autismus und das Asperger-Syndrom entspricht nicht mehr den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen. Da die Symptome der verschiedenen Ausprägungen eines Autismus fließend ineinander übergehen, spricht man heute von Autismus-Spektrum-Störungen (ASS).

Zur Erinnerung: Was ist die ICD-11?
ICD-11 steht für „Elfte Version der internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und Gesundheitsprobleme“. Dieser Katalog von Krankheiten und ihren Symptomen ermöglicht eine standardisierte Diagnose weltweit. Die ICD-11 ist seit 2022 in Kraft, allerdings mit einer Übergangszeit von fünf Jahren.

ASS im Kontext der Neurodiversität

Die Neurodiversitätsbewegung betrachtet Autismus-Spektrum-Störungen als Teil der Identität der Betroffenen. Die Symptome werden nicht als krankhaft oder defizitär angesehen, sondern als natürliche Variation menschlicher Entwicklung. Viele Betroffene sagen deshalb auch, sie sind Autisten – nicht, sie haben Autismus.

„Eine Erkrankung ist es dann, wenn es einen Leidensdruck gibt – bei den Betroffenen selbst oder ihrem Umfeld“, sagt Katharina von Kriegstein. „Viele Menschen im Autismusspektrum sprechen lieber von Neurodivergenz oder Neurodiversität. Die sagen: Ich bin vielleicht anders als andere, aber ich habe damit gar kein Problem.“

Autismus-Spektrum-Störung: Was wissen wir über die Ursachen?

Die Ursachen von Autismus-Spektrum-Störungen sind noch nicht abschließend geklärt. Es wird vermutet, dass eine genetische Veranlagung mit der Entwicklungsstörung des Gehirns in Zusammenhang stehen. Wenn die Eltern oder Geschwister Autisten sind, steigt die Chance, dass das Kind ebenfalls eine Autismus-Spektrum-Störung hat. Es gibt aber kein bestimmtes Autismus-Gen, sondern viele kleine genetische Effekte spielen zusammen.

Weitere Risikofaktoren erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind autistisch ist. Zum Beispiel:

  • Das Autismus-Risiko steigt mit zunehmende Alter beider Elternteile während der Empfängnis.
  • Infektionen während der Schwangerschaft, zum Beispiel mit Röteln, begünstigen eine Autismus-Spektrum-Störung beim Kind.
  • Bestimmte Medikamente erhöhen während der Schwangerschaft die Autismus-Wahrscheinlichkeit des Kindes, vor allem das Antiepileptikum Valproat.
  • Bei Frühgeburten, vor allem sehr frühen mit sehr geringem Geburtsgewicht, und Sauerstoffmangel unter der Geburt können eine Autismus-Spektrum-Störung begünstigen.

Der Weg zur Diagnose einer Autismus-Spektrum-Störung

Da die Symptome meist schon im frühen Kindesalter auftreten, kann eine sichere Diagnose aktuell ab einem Alter von zwei bis drei Jahren gestellt werden. Die internationale Forschung zielt darauf ab, dies sogar noch viel früher zu ermöglichen.

Erste Anlaufstelle ist die Hausarzt- beziehungsweise Kinder- und Jugendarztpraxis. Bei Bedarf kann dann an Einrichtungen überwiesen werden, die auf Autismus-Spektrum-Störungen bei Kindern und Erwachsenen spezialisiert sind.

Zur Untersuchung gehören unter anderem Gespräche mit dem betroffenen Kind oder Erwachsenen und deren Angehörigen, außerdem Verhaltensbeobachtung und Entwicklungstests. Verhaltensweisen und Symptome von Erwachsenen werden oft fehlgedeutet – also selten einer Autismus-Spektrum-Störung zugeordnet, was die Diagnostik erheblich erschwert. Viele Erwachsene lernen außerdem mit der Zeit, die Symptome ihrer Autismus-Spektrum-Störung zu verstecken.

Autismus-Spektrum-Störung bei Frauen

Insbesondere Frauen passen sich der neurotypischen Gesellschaft an, um nicht negativ aufzufallen. Oft werden die Symptome einer Autismus-Spektrum-Störung bei Mädchen bis ins Erwachsenenalter nicht erkannt. Somit erhalten sie die Diagnose deutlich seltener und auch viel später, als es bei Jungen der Fall ist. Diese als Masking bezeichnete Anpassung ist für die Betroffenen äußerst kräftezehrend.

Das zentrale Problem ist, dass die Standards zur Diagnostik einer Autismus-Spektrum-Störung ursprünglich auf Grundlage von Daten männlicher Betroffener entwickelt wurden. Somit zielen sie auf die typischen Symptome männlicher Personen ab und berücksichtigen nicht, dass sich die Auffälligkeiten von Autistinnen nachweislich auf andere Weise zeigen.

Auch geschlechterspezifische Vorurteile führen dazu, dass Autismus bei Frauen übersehen wird. Eine zurückhaltende, schüchterne, ruhige Frau entspricht dem gesellschaftlichen Bild und gilt als gesund. Die Symptome der Autismus-Spektrum-Störung werden bei weiblichen Erwachsenen nicht als solche wahrgenommen.

Symptome und Anzeichen für Autismus

Die Symptome einer Autismus-Spektrum-Störung sind äußerst individuell und unterschiedlich stark ausgeprägt – egal ob bei Kindern oder Erwachsenen und welchen Geschlechts.

Beispiele für Symptome, die bei einer Autismus-Spektrum-Störung auftreten können

Kommunikation

  • Probleme mit Small Talk, Gespräche zu beginnen oder am Laufen zu halten
  • Vermeiden von Blickkontakt
  • Reduzierte Mimik
  • Monotone Sprachmelodie

Soziale Interaktion

  • Schwierigkeiten, Mimik, Gestik, Tonfall und Körpersprache des Gegenübers zu deuten oder zu verstehen und entsprechend darauf zu reagieren
  • Kein Erkennen von Ironie oder Sarkasmus
  • Schwierigkeiten, Freundschaften aufzubauen oder zu pflegen

Repetitive Verhaltensweisen

  • Stimming: sich wiederholende Bewegungen oder Handlungen wie monotones Singen, Händereiben oder Hin- und Herschaukeln
  • Overload: Reizüberflutung, die durch Stimming kompensiert wird
  • Meltdown: Zuspitzung des Overloads, teilweise Selbstverletzung, Wutanfälle, Aggressionen bis hin zum Kontrollverlust
  • Shutdown: weitere Steigerung des Meltdown und absoluter Ausnahmezustand, Betroffene ziehen sich stark zurück und sind kaum noch ansprechbar.

Erwachsene Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung in der Berufswelt

Weniger als die Hälfte der diagnostizierten betroffenen Erwachsenen sind erwerbstätig. Kerstin Erdal ist Psychologin und untersuchte im Rahmen ihrer Promotion an der FernUniversität Hagen, wie sich Menschen mit ADHS und Autismus besser auf dem Arbeitsmarkt zurechtfinden können.

Autisten haben oft Probleme bei der Jobsuche. Dabei bringen viele besondere Fähigkeiten mit und empfinden eine starke Motivation für ihre Arbeit.

Erdal fand heraus, dass neurodivergente Menschen – und damit insbesondere Erwachsene mit einer Autismus-Spektrum-Störung – Stress intensiver wahrnehmen und sich davon schnell belastet fühlen. Ihr Gehirn ist, ähnlich wie bei hochsensiblen Menschen, reizoffener und somit schneller überfüllt mit Reizen, was als Stress wahrgenommen wird. Individuelle Arbeitsbedingungen wie eine ruhige Arbeitsumgebung, unterstützende Technik, Rückzugsbereiche, klare Anweisungen und Strukturen können unterstützen.

Kunden mit Autismus-Spektrum-Störung in der Apotheke

Auch wenn man den (insbesondere erwachsenen) Kunden nicht ansieht, ob sie eine Autismus-Spektrum-Störung haben, kann es von Vorteil sein, wenn PTA einen sensiblen Blick dafür entwickeln. Es erfordert etwas Fingerspitzengefühl, auf die besonderen Kommunikationsbedürfnisse einzugehen. Das betrifft in erster Linie eine angepasste Beratungspraxis. Das Gespräch sollte gut strukturiert, transparent und mit klarer Sprache geführt werden. Am besten geben Sie auch eindeutige (schriftliche) Anweisungen mit.

Ist Autismus also eine Modekrankheit?

Es werden faktisch mehr Autismus-Diagnosen gestellt, es handelt sich nicht um eine Modekrankheit. Doch es ist unklar, ob immer mehr Menschen an Autismus erkranken oder ob bisher unentdeckte Autismus-Spektrum-Störungen bei Erwachsenen öfter diagnostiziert werden. Der Blick auf das Thema hat sich in den letzten Jahren verändert. Die Neurodiversitätsforschung, aber auch die Mental-Health-Bewegung haben dazu entscheidend beigetragen.

Quellen:
https://idw-online.de/de/news858258
https://www.pharmazeutische-zeitung.de/anzeichen-kennen-beratung-anpassen-140806/
https://www.klinikum.uni-heidelberg.de/newsroom/autismus-weiterdenken/#
https://www.asklepios.com/konzern/diagnosen/psyche/psychische-erkrankungen-erwachsene/autismus-spektrum-stoerungen-erwachsene
https://www.aok.de/pk/magazin/koerper-psyche/psychologie/warum-autismus-bei-frauen-haeufig-unentdeckt-bleibt/
https://gesund.bund.de/autismus
https://www.bfarm.de/DE/Kodiersysteme/Klassifikationen/ICD/ICD-11/uebersetzung/_node.html
https://www.aerzteblatt.de/news/valproinsaeure-in-der-schwangerschaft-kann-autismus-ausloesen-69ec3f48-ecc0-4f61-9378-6dc14507ec2d 

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