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Schmöker des Monats

EINE HEILENDE ZUMUTUNG

Mit 67 Jahren wird ihr Mann, ein prominenter Fernsehjournalist, von zwei Schlaganfällen getroffen. Über das Leben mit ihm schreibt seine Frau. Sie tut es mit Würde und Wut, mit Trauer und Demut, mit Courage und wunderbarer Eloquenz.

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Sie hatte ihn an dem Tag, an dem alles begann, gesagt, dass sie nicht mehr mit ihm leben könne, nach zwanzig Jahren Ehe. Am Abend klingelt das Telefon: die Notaufnahme der Charité. „Kommen Sie!“ Als sie an seinem Bett sitzt, nach seiner Hand tastend zwischen all den Schläuchen und dem Gebimmel und Gewusel auf einer Intensivstation, da will sie nicht mehr, dass er geht. Sie will, dass er bleibt.

Ein gefällter Mann Mit diesem Paradoxon beginnt ein Buch, das seit Wochen auf der Bestsellerliste steht. Obwohl es schwer zu ertragen ist, obwohl es mit solcher Wortgewalt geschrieben wurde, dass man Pausen machen muss beim Lesen. Gabriele von Arnim hat sich alles von der Seele geschrieben, wunderbarerweise, denn so können sich auch Menschen satt lesen, die dieselben Erfahrungen gemacht haben, aber nicht mit solcher Sprachgewalt ausgestattet wurden. Wie macht man das? Wie erträgt man das Leben mit einem einst vitalen, mächtigen, gebildeten Klugen, dessen Beruf einst die politische Analyse war? „Ein gefällter Mann. Ein Bär ohne Wildnis“, spricht sie von ihm, der Moderator von „Monitor“ und „Bericht aus Bonn“, Leiter des Europastudios der ARD in Brüssel war und nun eingeschlossen ist „im Gehäuse seines halbgelähmten Leibes“.

„Er weiß alles und kann es glänzend wie eh und je formulieren. Nur versteht ihn kaum jemand. Nicht sein Sprach-, sondern das Artikulationszentrum ist getroffen. Er findet die richtigen Worte, aber sie klingen wie geplatzte Knallerbsen. Und dann liegen die Sätze herum und man muss versuchen, sie aufzusammeln, sie zu entziffern, um ihm endlich antworten zu können.“ Gabriele von Arnim, Tochter einer berühmten Familie voller Schriftsteller, Künstler, Politiker und Unternehmer, hat einst in Martin Schulze, dessen Name im Buch kein einziges Mal erwähnt wird, ihre große Liebe gefunden. Und er in ihr. Als ihre Liebe zu sterben beginnt, finden sie sie wieder. Etwa, wenn er in seinem neuen elektrischen Rollstuhl ganz dicht an den Herd herangefahren kommt, an dem sie hantiert „um näher bei mir zu sein, um zuzusehen. Wenn er Nähe mag, ist das Leben auf einmal fast normal. Zwei Menschen, die zusammen sind, sie kocht, er schaut lächelnd zu und legt ihr seine wackelnde Hand auf die Hüfte. „So ist es schön“, sagt er.“

»Das Miteinander – seit Jahren verloren gegangen – haben wir jetzt. Die gemeinsame Herausforderung: in der Krankheit sein und im Leben bleiben. Ihn nicht vernachlässigen und auch mich nicht. Das ist die Gratwanderung.«

Nie wieder laufen, nie wieder lesen Und dann berichtet sie wieder – brutaler Schnitt - von Wirklichkeit und Wahrnehmung, wenn er etwa sagt „Ich schaffe es, ich kann es, es wird.“ Es wurde nie. Er wird nie wieder laufen können und richtig sprechen, nie wieder sein Leben selbst gestalten, immer auf Pflege angewiesen sein. Der Schluckreflex ist beeinträchtigt. Er habe doch ein ordentliches Leben geführt, sagt er, und nun, am Ende widerfahre im dies, „diese Scheiße.“ Er hat recht, sagt sie. „Aber soll ich ihm recht geben?“ Sie, die selbst zweifelt, ob sie all das schafft, wirft sich mit Verve in diese Aufgabe, überfordert sich, lernt sich Inseln zu schaffen. Beauftragt Logopäden, Physiotherapeuten und sogar einen Hypnotiseur, baut die Wohnung rollstuhlgerecht um.

Der Kranke selbst, der nur noch mit einzelnen Worten kommunizieren kann, fordert „Luxus“ für sie und trifft damit den Nagel auf den Kopf. Eine Pflegerin kommt und bleibt an seiner Seite. Gabriele von Arnim organisiert wiederum Menschen, die gern helfen wollen, in einem Vorleser-Kreis, jeder bekommt seine festen Tage und Wunschtermine, und dann sitzen sie in dem großen roten Sessel in seinem Zimmer, mit einem Buch oder einer Zeitung und lesen eben vor, stundenlang. Von Arnim lernt, Freunde von Freunden zu unterscheiden, mancher erträgt es nicht und bleibt lieber weg, mancher sagt: „Es geht dir doch gut, sagt einer, von dem ich dachte, er sei ein Freund. Alle Welt bewundert dich.“ Sie weiß: Mit schwerer Krankheit konfrontiert zu werden, treibt manche in die Flucht oder in verdeckte Aggressionen.

Ich liebe dich, ruft er Sie schreibt über diesen schmalen Grat, den wohl alle Pflegenden gehen, diese Grenze zwischen Hilfeleistung und Übergriffigkeit, zwischen „Angst, Fürsorge und Bevormundung“. Wie macht man es richtig? „Ich will, er soll. Immer werden die Grenzen der eigenen Anmaßung getestet, muss die Herrschsucht befragt werden. Es ist auch ein übles Geflecht zwischen krankem Mann und pflegender Frau. Ein dorniges Gestrüpp, aus dem beide zerkratzt hervorkriechen.“ Manchmal schreit sie ihn an, denn er will sie fast immer bei sich haben. Und dann, nach einem heftigen Streit, klingelt er nach ihr.

Sie wechselt in eine andere Erzählperspektive: „Er winkt sie zu sich heran. Strahlt. Ich liebe dich, ruft er. Er greift nach ihrer Hand, zieht sie sich an den Mund, lässt sie los, um mit derselben, der einen funktionierenden Hand, nach seinem Tuch zu greifen, sich den Mund abzuwischen, aus dem immer wieder der Speichel rinnt, er greift wieder nach ihrer Hand, führt sie an den trockenen Mund – und küsst sie zärtlich.“ Als er stirbt, weiß sie, es ist an der Zeit. Sie lässt ihn. Die Nahrung verweigern, das Trinken einstellen. Als er geht, sitzt sie an seinem Bett, müde, eine Tasse Tee in der Hand. Zu Hause, wie sie es ihm versprochen hat. Das Sterben ist so heilig wie eine Geburt, sagt die Palliativärztin. „Er braucht Ruhe und wir brauchen sie auch“, sagt Gabriele von Arnim.

Der Schmerz kommt nach dem Schock Sie schreibt über die Zeit danach, darüber, dass der tiefste Schmerz erst nach dem Schock kommt und dass alles seine Zeit braucht. Dass sie lange in der Vergangenheit lebte, mit ihm darin lebte. Bis eines Tages die Schönheit wiederkehrt, „eine kleine Glut, ein sanftes Erwachen“. Sie beschreibt das so: „Ich habe ihm eines Tages erklärt, dass ich nun nicht länger bei ihm in der Vergangenheit bleibe, bei ihm und seiner Krankheit, sondern ihn mitnehme in mein Leben. Jetzt möge er bitte mit mir kommen. In die Stadt, ins Kino, zum Kaffeetrinken, zum Fahrradfahren. Und bitte vergiss meinen Geburtstag nicht.“ Stan Nadolny, der Schöpfer von „Die Entdeckung der Langsamkeit“, hat Gabriele von Arnims 240 Seiten langes Werk gelesen und kam zu dem Schluss: „Ein unglaubliches Buch. Eine heilende Zumutung.“ Ich finde, besser kann man es nicht formulieren.

Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 10/2021 ab Seite 140.

Alexandra Regner, PTA und Medizinjournalistin

Gabriele von Arnim Das Leben ist ein vorübergehender Zustand
Gebundenes Buch Rowohlt, 240 Seiten, 22 Euro ISBN: 978-3498002459

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