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Leaky Gut

FAKT ODER FAKE?

Blähungen, Allergien, Migräne, Typ-1-Diabetes – überall im Körper kann ein „durchlässiger Darm“ vermeintlich Schaden anrichten. Wissenschaftliche Beweise dafür fehlen bislang. Was ist wirklich dran am Leaky-Gut-Syndrom?

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Unumstritten: Der menschliche Darm ist ein faszinierendes Wunderwerk, ein Organ der Superlative, das nach wie vor viele Geheimnisse birgt. Wurde das meterlange Zentrum der Verdauung früher oft nur wenig beachtet, ist es mittlerweile längst in den Fokus des wissenschaftlichen Interesses gerückt.

Immer neue Einblicke in sein spannendes Innenleben werden publik. Intensiv erforscht werden unter anderem das intestinale Mikrobiom, sprich die Gesamtheit aller Mikroorganismen, die in unserem Darm beheimatet sind, sowie die Darm-Hirn-Achse, ein ausgeklügeltes Kommunikationssystem zwischen Gehirn und Bauch.

Auch über Ursachen und Entstehung quälender Darmerkrankungen haben Wissenschaftler in den letzten Jahrzehnten viele neue Erkenntnisse gewonnen, sodass Erkrankungen wie das Reizdarmsyndrom sowie chronisch-entzündliche Darmerkrankungen wie Colitis ulcerosa und Morbus Crohn heute erheblich besser verstanden und behandelt werden können.

Durchlässiger Darm Wer sich, sei es aus professionellem Interesse oder weil die eigene Körpermitte Probleme bereitet, etwas intensiver mit der Darmgesundheit beschäftigt, stößt früher oder später vermutlich auf den englischen Begriff „Leaky Gut“, zu Deutsch: durchlässiger beziehungsweise leckender Darm. Gemeint ist damit, dass die Barrierefunktion der Schleimhaut des Dünndarms gestört ist; Mediziner sprechen in diesem Zusammengang von einer intestinalen Permeabilitätsstörung.

In der Folge können durch winzig kleine offene Stellen in der Darmwand Schadstoffe wie Bakterien und Toxine aus dem Darm in den Blutkreislauf gelangen. Und das kann womöglich Entzündungen und zahlreiche, sehr unterschiedliche Beschwerden nach sich ziehen. Sowohl Verdauungsprobleme wie Reizdarm, Durchfall und Blähungen sollen auf das Konto eines durchlässigen Darms gehen als auch Krankheiten, die auf den ersten Blick gar nichts mit der Verdauung zu tun haben: Allergien, Typ-1-Diabetes, chronische Erschöpfung und Rheuma gehören unter anderem dazu.

Für die sehr unterschiedlichen Symptome, die mit dem durchlässigen Darm in Verbindung gebracht werden, gibt es ebenfalls eine Bezeichnung: Leaky-Gut-Syndrom. Ob das Syndrom des löchrigen Darms tatsächlich eine eigenständige Erkrankung ist oder eher ein Symptom bezeichnet, das infolge verschiedenster gesundheitlicher Störungen auftreten kann, ist in der Fachwelt umstritten und wird heftig diskutiert.

Offene Schleusen Die Darmschleimhaut, medizinisch als Darmmukosa bezeichnet, kleidet den Darm von innen aus. Sie ist Teil der natürlichen Barriere zwischen Darminhalt und Blutkreislauf. Spezielle Pförtner, die verhindern, dass Schadstoffe aus dem Darminneren ins Blut gelangen, heißen Tight Junctions, zu Deutsch: dichte Verbindungen. Dabei handelt es sich um gürtelartige Netzwerke aus Membranproteinen, die sich zwischen den Epithelzellen der Darmschleimhaut befinden.

Vergleichbar mit Schleusen lassen Tight Junctions selektiv nur jene Bestandteile des Darminhalts passieren, die der Körper braucht. Krankheitserreger und andere Substanzen, die ihm schaden würden, werden im Darm zurückgehalten – und später mit dem Stuhl ausgeschieden.

Beim Leaky-Gut-Syndrom funktioniert dieser Regulationsmechanismus nicht mehr ordnungsgemäß: Die Tight Junctions stehen ständig offen, wodurch auch schädliche Substanzen, etwa Giftstoffe und pathogene Keime, aus dem Verdauungsorgan ins Blut entweichen können.

Ungesicherte Diagnostik Für die Regulierung der Permeabilität der Darmschleimhaut und der Tight Junctions verantwortlich ist das Protein Zonulin. Von daher kann eine erhöhte Zonulin-Konzentration im Körper möglicherweise ein Hinweis auf Leaky Gut sein. Entsprechende Labortests – Zonulin lässt sich sowohl im Serum als auch im Stuhl bestimmen –, werden gerne zur Diagnostik eines Leaky-Gut-Syndroms genutzt.

Wissenschaftler betonen jedoch, dass ein erhöhter Zonulin-Spiegel nicht ausreiche, um eine intestinale Permeabilitätsstörung nachzuweisen. Auch weitere Labortests können der Leaky-Gut-Diagnostik dienen, zum Beispiel die Bestimmung des Entzündungsmarkers Alpha-1-Antitrypsin (α-1-AT).  Das Protein wird in der Leber gebildet und ist bei gestörter Darmbarriere im Stuhl nachweisbar. Ebenfalls zur Diagnostik infrage kommt ein Lactulose-Mannitol-Test.

Das Prinzip: Der Patient trinkt eine Lösung, die den Zweifachzucker Lactulose und den Zuckeralkohol Mannitol in definierter Menge enthält. Einige Zeit später wird die Konzentration beider Substanzen im Urin gemessen. Eine ungewöhnlich hohe Menge soll ein Leaky-Gut-Syndrom nahelegen. Wichtig zu wissen ist allerdings, dass alle genannten Labortests lediglich Hinweise liefern können. Eine gesicherte Methode, um dem durchlässigen Darm auf die Spur zu kommen, gibt es bislang nicht.

Vielfältige Übeltäter Ebenso schwer ist es, den individuellen Ursachen des Phänomens auf die Schliche zu kommen. Verfechter der Theorie vom Leaky-Gut-Syndrom haben jedoch eine Reihe von Auslösern identifiziert, die dafür verantwortlich sein können.

  • Ungünstige Essgewohnheiten: Unausgewogene Kost mit hohem Anteil an industriell verarbeiteten Lebensmitteln und viel Zucker kann sich zweifellos negativ auf unser Verdauungssystem auswirken. Fertigkost, Frittiertes, fettlastige Mahlzeiten und ähnlich ungesunde Lebensmittel und Essgewohnheiten sollen unter anderem auch die Funktion der Tight Junctions beeinflussen und für die Entstehung des Leaky-Gut-Syndroms mitverantwortlich sein. Gleiches gilt für alkoholische Getränke; vor allem regelmäßiger Alkoholkonsum kann eine Schädigung der Darmbarriere nach sich ziehen.
  • Anhaltender Stress: Ein Übermaß an Stress spielt bei der Entstehung zahlreicher Krankheiten nachweislich eine wichtige Rolle. Studien belegen, dass Dauerdruck und psychische Belastungen auch negativen Einfluss auf Darm und Darmbarriere haben können.
  • Krankheiten: Nahrungsmittelallergien und -intoleranzen können das Leaky-Gut-Syndrom womöglich ebenso begünstigen wie Pilzinfektionen und chronisch-entzündliche Darmerkrankungen wie Morbus Crohn und Colitis ulcerosa.
  • Einnahme von Medikamenten: Antibiotika, Cortison und Schmerzmittel werden als Auslöser erwähnt. Neben diesen Einflussfaktoren werden weitere Auslöser diskutiert, darunter Zigaretten, Amalgamfüllungen und Strahlentherapien.

Glücklicher Darm Um die Darmschleimhaut zu regenerieren, kommt es nach Einschätzung derjenigen, die das Leaky-Gut-Syndrom als eigenständige und behandlungsbedürftige Krankheit ansehen, auf eine passgenaue Therapie an. Grund- und Begleiterkrankungen müssen dabei immer berücksichtigt werden. Ebenso gilt es, individuelle Auslöser, wie etwa weißen Zucker, Alkohol oder Dauerstress, zu meiden. Eine Ernährungsumstellung, weg von industriell hoch verarbeiteter Kost, hin zu ausgewogenen, gesunden und ballaststoffreichen Mahlzeiten, kann hilfreich sein.

Mitunter werden auch ergänzende Verfahren wie Darm-Yogatherapie oder Achtsamkeitsmeditation empfohlen. Oft wird von Leaky Gut Geplagten zudem die Einnahme von Pro- und/oder Präbiotika nahegelegt. Probiotische Bakterienstämme sollen das Mikrobiom wieder ins Gleichgewicht bringen; präbiotische Ballaststoffe, wie Inulin und Oligofructose, liefern den guten Darmbakterien gesundes Futter. Welche Therapiebausteine im Einzelfall sinnvoll erscheinen, sollte immer der behandelnde Arzt beurteilen.

Den Artikel finden Sie auch in DIE PTA IN DER APOTHEKE 06/2022 ab Seite 26.

Andrea Neuen, freie Journalistin

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