Eine Frau hat ein Lippenherpes-Patch an der Unterlippe.© AlexeyZel / iStock / Getty Images Plus
Sind wirkstofffreie Pflaster bald alles, was Sie Ihren Kunden mit Lippenherpes anbieten sollen? Denn antimikrobielle Wirkstoffe sollen EU-weit verschreibungspflichtig werden.

Antimikrobielle Wirkstoffe

WIRD CLOTRIMAZOL BALD VERSCHREIBUNGSPFLICHTIG?

Jedes Jahr sterben in der EU 35 000 Menschen an den Folgen einer Infektion mit resistenten Keimen. Daher kommt aus Brüssel nun ein drastischer Plan: Antimikrobielle Wirkstoffe sollen verschreibungspflichtig werden. Müssen wir also bald wegen Fußpilz zum Arzt?

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Die EU will mit der Verschreibungspflicht den Gebrauch aller Antimicrobials bis 2030 um 20 Prozent senken. Hersteller, Politiker und die ABDA finden die Maßnahme falsch. Sollte es so kommen, rechnet der Bundesverband der Arzneimittelhersteller (BAH) mit 150 Millionen zusätzlichen Arztbesuchen pro Jahr. Hersteller und Apotheken müssten die Folgen fürchten.

Der drastische Vorschlag ist Teil des sogenannten EU-Pharmapaketes. Dabei handelt es sich um eine geplante Reform des Arzneimittelrechtes, um die Versorgung krisen- und zukunftssicher zu machen.

EU-weite Reform geplant

Unter anderem sollen Zulassungsverfahren verändert, Patentschutzzeiten angepasst und die Umweltbelastung reduziert werden. Auch das wachsende Problem der Resistenzbildung gegen die auf dem Markt befindlichen antimikrobiellen Wirkstoffe will die EU-Kommission angehen.

Verschreibungsfreie Antimicrobials betroffen?

Werden die Pläne umgesetzt, müssten auch topisch angewendete antimikrobielle Substanzen wie Clotrimazol oder Nystatin und auch Pencivir und Aciclovir bei Lippenherpes vom Arzt verordnet werden. Der BAH nennt die Pläne überzogen und fürchtet große Auswirkungen auf Hersteller und Apotheken.

Außer den immensen Kosten, die auf das Gesundheitssystem wegen der zusätzlichen Arztbesuche zukommen, erwartet der BAH auch gesundheitliche Folgen für die Betroffenen. Eine zusätzliche Hürde wie ein Arztbesuch verzögert seiner Meinung nach den Behandlungsbeginn zum Beispiel bei Lippenherpes oder einer Fußpilzerkrankung und führt zu einer erheblichen Unterbehandlung.

Seit mehr als 40 Jahren seien die Wirkstoffe EU-weit ohne Rezept verfügbar, Resistenzen seien kein größeres Problem. Die rechtzeitige, kurze Behandlung verhindere zuverlässig die Ausbreitung der Erkrankungen.

Zustimmung bekommt der BAH vom Präsidenten des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), Professor Karl Broich. Auch die ABDA (Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände) schätzt die Pläne aus Brüssel als zu weitreichend ein. Ihr Vorschlag ist der gleiche wie der des Spitzenverbandes der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV): Es sollten angemessene Ausnahmen vorgesehen werden, zum Beispiel bei Fußpilz.

Maßnahmen gegen Resistenzen nötig

Sicher ist, dass die Entwicklung neuer Resistenzen gegen antimikrobielle Wirkstoffe ein großes Problem darstellt. Die EU hält die Resistenzen für eine der drei größten Bedrohungen für die allgemeine Gesundheit. Die Auswirkungen seien vergleichbar mit denen von HIV, Tuberkulose und Influenza zusammen.

Einen großen Beitrag zur Bildung von Resistenzen leiste das Vorhandensein von Antimicrobials im Abwasser, in den Ackerflächen und in Küstengewässern. Der Hintergrund: Die dauerhafte Anwesenheit eines Giftes in geringen Mengen bewirkt bei Mikroorganismen eine Auslese.

Wenn die Konzentration des Giftes nicht ausreicht, um die Vermehrung vollständig zu stoppen, teilen sich die Zellen weiter. Diejenigen, die durch Mutationen Wege finden, das Gift zu umgehen, vermehren sich stärker als die Ursprungsform. Über eine längere Zeit entstehen so ganze Populationen von Keimen, denen das Gift nichts mehr anhaben kann. Der einzige Ausweg: neue Wirkstoffe, die an einer anderen Stelle ansetzen.

Neue Antibiotika fehlen

Das EU-Parlament verabschiedete im Juni eine Entschließung, in der die Politiker die fehlenden Innovationen bei der Entwicklung neuer Antibiotika bemängeln. Derzeit befinden sich 43 Substanzen in der Pipeline der Hersteller, aber nur sehr wenige könnten zu einer Entspannung der Lage beitragen.

Dazu muss eine neue Substanz entweder wenige oder keine Kreuzresistenzen zu bereits existierenden Arzneistoffen aufweisen oder eine neue Bindungsstelle besetzen. Auch neue Strukturelemente oder Wirkstoffklassen erfüllen die Anforderungen, die die WHO an neue Antibiotika stellt.

Das EU- Parlament betont: Es gibt dringend Handlungsbedarf.

Quellen:
https://www.pharmazeutische-zeitung.de/eu-will-antimicrobials-unter-verschreibungspflicht-stellen-140845/
https://www.pharmazeutische-zeitung.de/eu-bessert-im-pharmapaket-voucher-loesung-nach-139831/
https://data.consilium.europa.eu/doc/document/ST-9581-2023-INIT/en/pdf
https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2023-0220_DE.html

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