Statt Bewegung Couching: Die Verführung ist manchmal aber auch zu groß. © txking / iStock / Getty Images Plus

Zivilisationskrankheiten

MODERNE GESELLSCHAFTEN UND IHRE KRANKHEITEN

Von einer Jäger- und Sammlergesellschaft zur dörflichen Struktur mit Ackerbau – mit der Sesshaftigkeit ging es eigentlich los. Doch so richtig kam der Überfluss mit der Industrialisierung: Der vereinfachte Zugriff auf Lebensmittel plus Bewegungsmangel brachte neue Krankheiten unter die Menschheit.

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Sie werden als die größte Epidemie der Menschheit betitelt und unter dem Begriff Zivilisationskrankheiten zusammengefasst: Karies, Herzkreislauferkrankungen, Adipositas und damit einhergehende Stoffwechselerkrankungen (z.B. Diabetes mellitus Typ 2, Gicht, Blutfettstörungen), Krebs, Allergien, chronische Magen-Darm-Erkrankungen und bestimmte psychische Störungen (z.B. Depression, Angst- und Essstörung). Laut einem WHO-Bericht aus dem Jahr 2014 sterben jedes Jahr weltweit über 16 Millionen Menschen vor dem 70. Lebensjahr an diesen vermeintlich vermeidbaren Erkrankungen. Diese Zahlen übersteigen damit die Zahl derer, die infolge einer Infektionskrankheit versterben. Zudem sind Zivilisationskrankheiten mittlerweile Hauptursache für eine Berufsunfähigkeit. Natürlich muss gesagt werden, dass eine Industriegesellschaft auch zahlreiche Faktoren mit sich bringt, die zu einer hohen Lebensqualität beitragen. Nie zuvor waren wir besser medizinisch versorgt, dank hochentwickelter Technologie von harter körperlicher Arbeit verschont oder hatten Zugriff auf eine Fülle von Lebensmitteln zu nahezu jedem Zeitpunkt – doch das hat eben nicht nur Vorteile.

Wohlstand und Lifestyle Ein direkter Zusammenhang ist wissenschaftlich nicht in jedem Fall nachweisbar, als unumstritten gelten aber folgende Risikofaktoren für das gehäufte Auftreten von Zivilisationskrankheiten in Industrieländern:

  • Umweltgifte,
  • Über- und Fehlernährung (zu kalorienreich, zu viel Fett, Zusatzstoffe, zu viel Zucker, kritisch diskutierte Fettsäuren),
  • Bewegungsmangel,
  • Lärmbelastung,
  • mediale Reizüberflutung und Stress,
  • übertriebene Hygiene,
  • Alkohol-/Nikotinkonsum.

Dabei kann in den seltensten Fällen eine bestimmte Ursache verantwortlich gemacht werden, es handelt sich vielmehr um ein multifaktorielles Geschehen. An der Auswahl der Faktoren wird aber auch deutlich, dass in den meisten Fällen nicht die Zivilisationsprozesse an sich verantwortlich gemacht werden können, sondern was der Mensch daraus macht, sogenannte verhaltensbezogene Risikofaktoren wie beispielsweise das Ernährungsverhalten. Die Gründe für diese gehäuft auftretenden, vor allem chronischen Erkrankungen sind demnach ähnlich unscharf wie die Vielzahl an Krankheiten selbst. So zählen einige auch Demenz zu den Zivilisationskrankheiten, während andere davon Abstand nehmen. Wissenschaftler sind sich zudem uneinig, ob nicht auch schlicht das zunehmende Lebensalter Schuld an dem Krankheitswandel, also weg von den Infektionskrankheiten hin zu den nicht übertragbaren Krankheiten, ist. Dafür würde auch sprechen, dass Menschen in nicht industrialisierten Ländern eine geringere Lebenserwartung besitzen, häufiger an Infektionskrankheiten (Tuberkulose, AIDS, Malaria) versterben oder chronische, zu den Zivilisationskrankheiten zählende, Erkrankungen aufgrund einer schlechteren medizinischen Versorgung nicht diagnostiziert werden können.

Nicht umsonst blickt die WHO besonders besorgt auf Schwellen- und Entwicklungsländer, wo mittlerweile ebenfalls mehr Menschen an den Folgen übermäßigen Alkohol- und Tabakkonsum sowie einer ungesunden Lebensführung versterben als an einer Infektion. Daneben existieren aber noch weitere Gründe, die eine fortgeschrittene Technik mit sich bringt und unsere Lebensqualität negativ beeinflussen kann. So existieren zahlreiche wissenschaftliche Betrachtungen, die sich mit dem Zusammenhang von Lärm und Zivilisationskrankheiten beschäftigen. Lärm durch Verkehr, Flugzeug und Presslufthammer begünstigen nachweislich das Auftreten von Herzkreislauferkrankungen oder psychischer Beeinträchtigung durch Aggression oder Stress. Auch die gesundheitlichen Auswirkungen einer langfristigen Exposition durch Abgase, Schadstoffe oder Strahlung werden weiterhin untersucht. Zahlreiche (allergische) Haut- und Lungenerkrankungen werden damit in Verbindung gebracht. Aktuelle Diskussionen über Dieselfahrverbote oder kommunale Maßnahmen zur Reduktion der Feinstaub- beziehungsweise Stickoxid-Belastung in deutschen Innenstädten zeigen, dass diese Zusammenhänge bereits in der Politik angekommen sind.

Vermeidungsstrategien
Die meisten dieser Erkrankungen können nicht ursächlich bekämpft werden und das besonders Gemeine dabei ist: Ihr Entstehungsprozess ist vergleichsweise langsam. Essen wir verdorbene Lebensmittel und haben ein paar Stunden später Magen-Darm-Beschwerden, dann wissen wir Bescheid. Zivilisationskrankheiten haben hingegen eine lange Latenzzeit – obwohl schon pathogene Mechanismen in Gang gesetzt wurden. Umso wichtiger ist es, zu deren Bekämpfung auf Präventionsmaßnahmen zu setzen. Auch das ist bereits in der Gesundheitspolitik bekannt und wird entsprechend gefördert.

Sogenannte Gesundheitspräventionskurse werden in unterschiedlichen Bereichen angeboten, zum Beispiel in Form von Stressbewältigungskursen, Rückenschule, Yoga- und Fitnesskursen oder ganz praktisch im Rahmen einer durch die Krankenkasse finanzierten Zahnreinigung. Auch öffentliche Aktionstage und Kampagnen rufen zu einem gesünderen Lebensstil auf. Letztlich ist aber jeder selbst für seine Gesundheit verantwortlich. Bereits kleinere Veränderung der persönlichen und sozialen Lebensführung können viele der gesundheitlichen Risiken reduzieren und als Schutzfaktoren genutzt werden. Zum Beispiel die Treppe zu nehmen statt Aufzug oder Rolltreppe, häufiger mit dem Rad fahren oder zu Fuß gehen, sich die Zeit nehmen, um in Ruhe zu essen statt to go nebenbei Nahrung aufzunehmen, statt Alkohol und Zigarette zur Stressreduktion vielleicht einmal Arbeit liegen lassen und es sich gut gehen lassen – alles bekannt, doch anscheinend noch nicht ausreichend genutzt. Die WHO schlägt in ihrem "Globalen Aktionsplan gegen nicht übertragbare Krankheiten für 2013-2020“ (Global action plan for NCDs 2013-2020") verschiedene grundlegende Änderungen vor, um bis 2025 ein Viertel weniger Todesfälle durch Herz-Kreislauf-Krankheiten, Krebs, Diabetes und chronischen Atemwegserkrankungen zu erreichen.

Dazu soll der Genuss von Tabak und Alkohol reduziert werden. Zu den konkreten Maßnahmen zählen beispielsweise das Verbot von Tabakwerbung, der Ersatz von Trans-Fettsäuren durch mehrfach ungesättigte Fettsäuren in Lebensmitteln, die Einschränkung oder das Verbot von Werbung für alkoholische Getränke, Stillen als Empfehlung und Ernährungs- sowie Bewegungsprogramme für die Bevölkerung. Auch die Apotheke hat als unmittelbar erreichbare Anlaufstelle und als Leistungserbringer im Gesundheitswesen den Auftrag, in Gesundheitsfragen zu beraten und Präventionsarbeit zu betreiben. Zum Beispiel durch die Aufklärung und Unterstützung im Umgang mit Gesundheitsrisiken und –belastungen, das Angebot von Gesundheitstests (z.B. Blutzucker- oder Blutdruckmessung), die Zusammenarbeit mit Selbsthilfegruppen oder anderen Heilberuflern oder sogar zur Ressourcenförderung beziehungsweise zur Stärkung gesundheitsfördernder Strukturen.

Wirklich ein modernes Phänomen?
Jenseits der epidemiologischen Forschung gibt es auch immer wieder Hinweise darauf, dass sogenannte Zivilisationskrankheiten vielleicht doch nicht so neu sind. So zeigen Fossilienfunde aus Österreich und Italien, dass schon unsere Ahnen zum Teil schlechte Zähne hatten oder fettleibig waren. Vielleicht doch keine industrielle, vielmehr eine evolutionsbiologische Geschichte? Auch Orang-Utans, Gorillas und Schimpansen sind anfällig für Übergewicht und Co. – und die leben nun wirklich nicht in einer Industriegesellschaft. So konnten Genanalysen zeigen, dass uns genauso wie unseren tierischen Verwandten das Enzym Uricase fehlt, die Folge: Harnsäureanstieg, Erhöhung des Blutdrucks, Anreicherung von Körperfett. Eine Analyse der damaligen Botanik identifizierte einige äußerst zuckerhaltige Pflanzenvertreter, zum Beispiel Wein, Maulbeere, Esskastanie oder Kirschenähnliche, außerdem zahlreiche honigtragende Pflanzen.

Neun von zwölf Monaten standen unseren Vorfahren demnach zuckerhaltige Nahrungsmittel zur Verfügung – und die wurden für Fettreserven über den Winter dringend benötigt! Wer dank prall gefüllter Fettzellen den Winter überlebte, pflanzte sich dementsprechend fort. Und dieses Erbe tragen wir heute noch in uns. Die Basis wurde also schon viel früher gelegt, wir können der Zivilisation nicht die ganze Schuld in die Schuhe schieben. Doch brauchen wir heute diese Energiepolster nicht mehr, uns steht ständig Nahrung im Überfluss zur Verfügung, und zwar 24 Stunden am Tag, 7 Tage die Woche, 365 Tage im Jahr. Die Kernaussage des Gesundheitsberichts des Robert-Koch-Instituts von 2008 ist demnach auch zehn Jahre später noch aktuell: Noch immer rauchen zu viele Menschen, sind zu dick, bewegen sich zu wenig und trinken zu viel Alkohol.

Farina Haase,
Apothekerin, Volontärin

Quelle: www.med.uni-magdeburg.de
   www.berugsunfaehigkeitsversicherungen-heute.de
   www.in-form.de
   www.abda.de
   www.vibss.de
   www.wissenschaft.de

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