Kind sitzt auf Heuballen. © romrodinka / iStock / Getty Images Plus
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Schmöker

MITTAGSSTUNDE

Ingwer Feddersen, 47, kehrt aus Kiel in sein Heimatdorf zurück. Er hat dort noch etwas gutzumachen: Großmutter Ella ist dabei, den Verstand zu verlieren. Großvater Sönke hält im Dorfkrug stur die Stellung.

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Dörte Hansen
Mittagsstunde Taschenbuch Penguin Verlag 336 Seiten, 12,40 Euro ISBN: 978-3-328-10634-0

Das ist die Ausgangssituation in Dörte Hansens glänzend erzähltem Roman „Mittagsstunde“ und es klingt trauriger als es ist. Die Geschichte enthält zwei Generationen Menschenleben, eine Selbstfindung, hat ein bisschen was Geheimnisvolles, viel Wahres und vor allem viel, viel Situationskomik. Etwas, das der Literaturkritiker Denis Scheck in seiner Sendung „Druckfrisch“ Satire nannte. Doch wo jeder, der auf einem Dorf groß geworden ist, sich fragt, ob es denn wirklich Satire ist.

Freddy Quinn und Peter Alexander Zurück zum Plot: Ingwer aus Brinkebüll in Nordfriesland hat das Dorf verlassen, als er nach dem Studium als Dozent an der Uni blieb. Er lebt mit dem verpeilten Segler Claudius und der gesellschaftskritischen Diplomatentochter Ragnhild in der wohl dienstältesten Kieler WG zusammen, man teilt sich seit mehreren Jahrzehnten ein Abo der taz. Großvater Sönke hingegen hat sein Dorf, außer zum Kriegsdienst, nie verlassen. Er betreibt seit seinem 15. Lebensjahr die Brinkebüller Gastwirtschaft zusammen mit seiner Frau Ella, beide haben zudem ihren Enkel großgezogen, den die geistig retardierte Tochter mit 17 bekommen hat.

Die lebt nach wie vor im selben Haus, sammelt aber lieber tote Vögel ein, um sie in ihr Notizheft zu malen, singt nachts zu Freddy Quinn von den Sternen, die ein Seemann sieht, wenn er von der Reeling schaut. Denn selbstredend steht im großen Saal der Wirtschaft eine Wurlitzer, in den man nur eine Münze einzuwerfen braucht, und er schmettert Peter Alexander mit seinem letzten Walzer oder Peggy March, die mit 17 noch Träume hat (die Älteren werden besagte Musikstücke noch kennen). Dörte Hansen, die viele noch von ihrem Erst-Bestseller „Altes Land“ kennen, ist selbst auf einem Dorf groß geworden. Eines, in dem man Plattdeutsch sprach, und wo man erst auf der höheren Schule richtig merkte, dass die eigentliche Hochsprache eine andere ist.

So achtet denn in „Mittagsstunde“ der alte Dorflehrer an der Gemeinschaftsschule streng darauf, dass gerade die Kinder mit Gymnasialempfehlung sich den Dialekt abgewöhnen, lässt sie „das gurgelnde r“ nachsprechen. Wenn sie nicht spuren, gibt’s Kopfnüsse. Die niemals alternde Dora Koopmann führt den Dorfladen, in dem es keine Selbstbedienung gibt, und was sie nicht hat, braucht man auch nicht. Erich Boysen, der Dorfbäcker, darf nur zu Weihnachten seine Zuckerbäckerkünste ausleben, ansonsten wollen die Brinkebüller immer nur Schwarzbrot, Graubrot, Rosinenbrot. Aber immerhin: Als Ingwer Kind ist, gibt es die noch. Den Bäcker, den Laden, die Werkstatt. Und die Wirtschaft.

Ein Knäuel Mensch Dieses Dorf, dessen Verwobenheit in den 60er Jahren noch so eng ist, trägt auch seine Mutter, die halb-verrückte (auf platt: verdreihte) Marrett, die Großmutter Ella unter nicht ganz geklärten Umständen im Krieg auf die Welt gebracht hat. „Marret war verdreiht. Ein Knäuel Mensch, verfilzt, schief aufgerollt. Es gab die Sorte überall, in jedem Dorf. Zwei oder drei, die in sich selbst verknotet waren, mit keinem sprachen und bei Ostwind weinten, rohe Rüben von den Feldern aßen oder barfuß liefen, wenn es schneite.“ Sie sammelt Steine, Rindenstücke, Tiere, verstaut sie in einem alten Schrank im Stall.

Wird schwanger von einem Landvermesser, der verschwindet, bis die Eltern es merken. Marret sieht beständig die Welt „ünnergehen“ und bekräftigt das bei ihren Hausbesuchen mit einem alten Exemplar des „Wachturms“ von den Zeugen Jehovas. Die Brinkebüller kennen das und tolerieren das und finden es auch nicht weiter schlimm. Sie wissen, wenn Marret auf dem Dach der alten Meierei sitzen darf und niemand sie stört, ist sie am leichtesten zu haben. Und nein, die gute alte Zeit ist nicht immer gut. Da gibt es Leute, die ihre Kinder großprügeln und ihnen Bildung verwehren, die zäh am Alten festhalten und das Neue nicht mal angucken.

Auch die Brinkebüller gehen fremd und trinken in der Wirtschaft viel zu viel Alkohol und wer da wessen Kind austrägt, ist nicht immer zweifelsfrei geklärt. Da müssen die großen Feste zuverlässig bei Feddersens gefeiert werden, auch wenn man dafür einen Kredit aufnimmt. Und da lädt der Enkel große Schuld auf sich, wenn er das Erbe des Großvaters nicht übernehmen will. Keine Lust auf Gastwirtschaft, auf Dienst am Zapfhahn – sein Leben lang.

Von Kapuzenkindern und der Mittagsstunde Tja, „Schlossers Dörte“ – wie sich die Autorin selbst in einem Interview einmal mit ihrem Dorfnamen bezeichnete – kennt sich aus. Zum Beispiel indem sie den resignierten Pfarrer beschreibt: „Pastor Ahlers war Schlimmeres gewohnt. Auf solche Kleinigkeiten kam es gar nicht an, die Leute glaubten sowieso nichts. Er hatte es weiß Gott versucht, die Seelen zu erquicken und sie aus dunklen Tälern zu befreien, aber der Hirtenjob war hart hier draußen. Seine Sorte Schaf schien gegen jeden Glauben imprägniert zu sein. Windund wetterdichtes Fell, nichts Frommes drang da durch. Alles Göttliche lief ab an ihrem Fell wie Wasser am Gefieder einer Gans. Sie glaubten ihm kein Wort.“

Oder die „Kapuzenkinder“: „Er (Ingwer) sah den norddeutschen Schrägregen und die Kapuze, die sie mit beiden Händen am Gesicht festhielten, damit der Wind sie nicht herunterzerren konnte. Er kannte den Schulbus mit den beschlagenen Scheiben, der wieder ewig brauchen würde für die zwanzig, dreißig Kilometer bis nach Niebüll oder Husum, der behäbig wie ein Kartoffelroder über die Geestdörfer fuhr, um all die anderen Kapuzenkinder auch aufzulesen. Er konnte sehen, wie sie im Halbschlaf vor der Schule standen, bevor der Hausmeister um kurz vor sieben endlich mit dem Schlüssel kam.“ Wenn diese Kinder gegen zwei von der Schule kamen, stand das Mittagessen zugedeckt auf dem Tisch.

Man aß leise, mit einem Buch neben dem Teller, denn die Eltern schliefen ihren Mittagsschaf: „Niemand konnte leiser essen und Treppen geräuschloser hinaufschleichen als Kinder, die in Nordfriesland aufgewachsen waren. Wenn es etwas gab, das den Menschen hier oben heilig war, dann war es ihre Mittagsstunde.“ Bis zum überraschenden Schluss lässt die Autorin die Jahrzehnte passieren. Die Hecken auf den Feldern verschwinden bei der Flurbereinigung. Die Störche kommen nicht mehr. Die Kinder möchten die Höfe ihrer Eltern nicht mehr übernehmen, sondern ziehen lieber in die Stadt.

Derweil ziehen andere Leute aus der Stadt aufs Dorf, kaufen die alten Reetdachhäuser für einen „Appel und ein Ei“ und sitzen dabei einem großen Missverständnis auf, denn: „Die Leute aus der Großstadt suchten die Natur und das Ursprüngliche, und in den Dörfern wurde es gerade abgeschafft.“ Sönke, der Großvater, lebt nur auf diesen einen Tag hin: seine Gnadenhochzeit mit Ella, die längst nicht mehr weiß, wer sie ist und die sich ihr Honigbrot auf dem Teller ohne Brot schmiert. Ingwer, der Enkel, steht dabei und versorgt die beiden alten Menschen. Schaut ganz genau hin. Lernt. Ob alles gut wird, mag der Leser entscheiden, auf dem tragikomischen Weg zur Erkenntnis.

Den Artikel finden Sie auch in DIE PTA IN DER APOTHEKE 03/2021 ab Seite 104.

Alexandra Regner, PTA und Journalistin

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