Eine Abbildung des Asklepios-Stab, der gewundenen Schlange um einen Stab
Den Stab kennen wohl die meisten, doch wer war sein Namensgeber? © Paul Campbell / iStock / Getty Images Plus

Nomenklatur der Medizin

ÄSKULAP GAB SEINEN STAB, MINERVA IHR SCHILD

Warum heißt das Gift der Tollkirsche Atropin? Warum wird ein zweigeschlechtliches Wesen Hermaphrodit genannt, warum das starke Schmerzmittel aus dem Schlafmohn Morphin? Wer hat sich eigentlich all die Namen für chemische Verbindungen, Arzneimittelklassen und Krankheiten ausgedacht?

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Friedrich Wilhelm Sertürner, Apothekergehilfe in der Hofapotheke zu Paderborn, war aufgeregt: Er hatte gerade einen neuen Stoff entdeckt, ein Alkaloid aus dem Schlafmohn. Etwas später fand er auch endlich einen passenden Namen dafür: Nachdem er sich intensiv an seinen Altgriechisch-Unterricht erinnert hatte, nannte er 1817 seine erste Abhandlung über den betäubenden und schmerzlindernden Extrakt: „Ueber das Morphium, eine neue salzfähige Grundlage, und die Mekonsäure, als Hauptbestandteile des Opiums.“ Doch wie kam er auf die Wortschöpfung?

So wie heute Englisch selbstverständlich erste Fremdsprache an unseren Schulen ist, war es damals Latein, an den höheren Schulen auch Altgriechisch. Da blieb es nicht aus, dass man sich in der dazugehörigen Götterwelt ebenfalls gut auskannte: Sertürner wusste vom antiken Hypnos, dem Gott des Schlafes, und Thanatos, seinem Bruder, dem Gott des Todes. Hypnos hatte laut Mythologie an die 1000 Kinder, einer davon war Morpheus, Hüter der Träume. Da Sertürner sich und seine Kumpels mit dem neuen Arzneistoff bereits einmal sehr heftig in Morpheus‘ Arme gestürzt hatte (und beinahe nicht wieder herausgekommen war, mit der Dosis kannte er sich noch nicht so aus), taufte er das neue Alkaloid nach ihm. Die Hypnotika als schlaffördernde Arzneistoffel haben vom Göttervater ihren Namen und die Thanatologie bezeichnet die Wissenschaft von den Ursachen und Umständen des Todes. So weit, so logisch.

Axel Karenberg, Professor am Institut für Geschichte der Medizin in Köln, hat dazu eine Vorlesungsreihe konzipiert, die besonders bei den Erstsemestern der Fakultät sehr beliebt war. In seinem Buch „Amor, Äskulap & Co“ sind diese zusammengefasst. Es vermittelt erstaunliches Hintergrundwissen für die Nomenklatur von Chemie, Pharmazie und Medizin und lässt einen Hauch von Romantik durch die spröden Wissenschaften wehen. Forscher und Wissenschaftler aus früheren Zeiten bis heute bedienten sich großzügig aus dem Wissensschatz der Antike und des Mittelalters und bewiesen dabei eine umfassende humanistische Bildung.

Der recht hässliche und zottelige griechische Waldgott Pan legte beispielsweise ausgesprochen viel Wert auf einen ungestörten Mittagsschlaf. In der „Stunde des Pan“, wenn die Sonne am höchsten stand, hatte ein Unruhestifter harte Strafen zu befürchten: Dann veranlasste die Gottheit in donnerndem Zorn einen „panischen“ Schrecken unter den Tieren der Herde, sie liefen davon und der Lärmverursacher sah seine Schafe und Ziegen womöglich nie wieder. Phobos, einer der Söhne des Kriegsgottes, lieh seinen Namen gleich einer ganzen Gattung von Krankheiten, den Phobien. Asklepios, der Heilgott, gab seinen Wanderstab mit der sich windenden Natter der Ärztezunft als Erkennungszeichen, und eine seiner Töchter, Hygieia, verewigte sich in einer Fachrichtung, der Hygiene. Römer und Griechen glaubten daran, dass drei Schicksalsgöttinnen bei der Geburt eines Kindes den Lebensfaden webten. Die letzte im Bunde, Atropos, schnitt dann mit geübtem Griff das Band durch – woraufhin bedauerlicherweise das Dasein des Menschen endete. Und zwar sofort. Schon im 16. Jahrhundert geistert der Name „Atropa“ immer wieder als Bezeichnung für ein gewisses Nachtschattengewächs auf. Und weil sich die schönen Frauen des Rokoko den pupillenerweiternden Extrakt der Tollkirsche gern ins Auge tropften – das sah im Lichte der Kerzen abends einfach klasse aus – erweiterte sich der Name um „Atropa belladonna“. Der Apotheker Rudolph Brandes aus Bad Salzuflen führte 1825 dann die Bezeichnung Atropin ein.

Da die griechischen beziehungsweise römischen Götter reichlich promiskuitiv lebten, kam es auch schon einmal zu außerehelichen Kindern: Zum Beispiel, als die Schönheitsgöttin Aphrodite („Aphrodisiaka“) sich mit dem Götterboten Hermes vergnügte. Ihr Nachkomme Jüngling Hermaphroditos wuchs zu einem hübschen Kerlchen heran; beim Nacktbaden wurde er heimlich von einer Nymphe beobachtet, die sich auf der Stelle in ihn verliebte. Da er ihre Liebe aber zurückwies, zog sie den jungen Mann zu sich in die Tiefe und vereinigte sich mit ihm zu einem Mischwesen: So erklärten sich die Menschen in der Antike den „Zwitter“, der sowohl weibliche als auch männliche Geschlechtsmerkmal aufwies.

Gern bedient sich auch die Psychiatrie aus dem reichen Schatz der griechischen Mythologie: Der von Sigmund Freud geprägte „Ödipus-Komplex“ fand Eingang in die Allgemeinsprache. Der Nymphensohn Narziss verliebte sich in sein eigenes Spiegelbild und gründet das Krankheitsbild der krankhaft übersteigerten Selbstliebe. Und schließlich die Achillesferse: Sie ist nicht nur die Bezeichnung für die stärkste Sehne des Körpers, sondern auch für den sprichwörtlichen wunden Punkt. Der Sohn einer Göttin sollte durch Eintauchen in den Fluss Styx unverwundbar gemacht werden; doch irgendwo musste die Mutter den kleinen Achill festhalten – und so wurde diese Stelle am Fuß der Eintrittsort des todbringenden vergifteten Pfeils.

Doch nicht nur die Götterwelt musste bei der Namengebung herhalten, auch Bibel und Literatur regten die Phantasie der Schöpfer an. Sodomie, Onanie und das Hiob-Syndrom (eine Hauterkrankung) stammen aus dem Alten Testament, das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom, der Werther-Effekt, Sadismus und Masochismus aus dem schriftstellerischen Bereich. „Die meisten Vorbilder aus Dichtung und bildender Kunst fanden erst innerhalb der vergangenen 200 Jahre Eingang in den Technolekt der Medizin, geschaffen von einem merkwürdigen Bedürfnis des Menschen: dem Wunsch nach Verzauberung durch Poesie“, sagt der Autor. Doch dieses Interesse an der Grenze zur Wissenschaft scheint zu erlöschen. „Man wird sich möglicherweise an die Herkunft und die Etymologie prägender Wortelemente bald nicht mehr erinnern.“

Doch dann kann man ja im Buch nachschlagen. Oder wussten Sie, dass der „Minervagips“, eine entlastende orthopädische Fixierung der Wirbelsäule, dem Waffenschild der römischen Kriegsgöttin nachempfunden ist?

Alexandra Regner,
PTA und Journalistin

Quelle: 
Axel Karenberg: Amor, Äskulap & Co. Klassische Mythologie in der Sprache der modernen Medizin. Verlegt bei Schattauer, Stuttgart, 2005. 213 Seiten. ISBN 3-7945-2343-1

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