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Kolumne | Holger Schulze

WER ZWEIMAL LÜGT …

Was mit kleinen Unwahrheiten anfängt, kann sich mit der Zeit zu dreisten Lügen auswachsen. Schuld daran sind Anpassungsphänomene im Gehirn, speziell in den Mandelkernen.

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Kennen Sie das auch? VW-Abgasskandal, Plagiatsfälle in Doktorarbeiten führender Politiker oder Panama- Papers: Bekommen Sie da langsam auch den Eindruck, dass in Politik und Wirtschaft nicht nur immer mehr gelogen und betrogen wird, sondern dass die Lügen obendrein auch immer dreister werden? Wie kommt es dazu, dass unsere gesellschaftlichen Normen ethischer und moralischer Grundsätze immer wieder von Einzelnen bewusst ignoriert und gebrochen werden, selbst von Personen, an die man aufgrund ihrer gesellschaftlichen Stellung eigentlich besonders hohe Integritätsansprüche stellen würde? Die Antwort findet sich, wieder einmal, in der Funktionsweise des menschlichen Gehirns.

Häufiges Lügen erhöht die Dreistigkeit.

Da das Gehirn alle unsere Verhaltensweisen steuert, wird eine Entscheidung darüber, zu lügen und damit wohlmöglich ganz bewusst eine moralische Grenze zu überschreiten, auch im Gehirn getroffen. Damit dies normalerweise nicht geschieht, existieren interne Schutzmechanismen: Das bewusste Betrügen oder Brechen einer moralischen Norm löst in uns negative Emotionen aus, die sich physiologisch in Reaktionen des autonomen Nervensystems (Aktivierung des Sympathikus), etwa Schweißausbrüchen oder Hautrötungen, äußern können, neurologisch hingegen in dem unangenehmen Gefühl, das mit einem schlechten Gewissen einhergeht. Solche Reaktionen korrelieren mit erhöhter Nervenaktivität in bestimmten Bereichen des limbischen Systems, insbesondere den Mandelkernen (Amygdala). Dabei gilt, je dreister die Lüge, desto stärker die Aktivierung und desto unangenehmer die negativen Reaktionen. Und daher ist die Hemmschwelle gegen eine große Lüge viel höher als gegen eine kleine Schwindelei.

Wie sich nun herausstellte, gibt es bei der Stärke dieser Aktivierung der Amygdala gewisse Gewöhnungseffekte (Adaptation), nämlich immer dann, wenn wiederholt gelogen wird: Die Aktivität in der Amygdala sinkt. Ähnliche Effekte zeigen sich auch in einem anderen Bereich des limbischen Systems, der vorderen Inselrinde, wenn auch weniger ausgeprägt als in der Amygdala. Das führt mit der Zeit dann dazu, dass sich ein großer Betrug gar nicht mehr so schlimm anfühlt, folglich die Hemmschwelle sinkt und der Betrug dreister wird. Und je stärker die Aktivität in der Amygdala sinkt, desto schwerwiegender wird der nächste Betrug sein, einfach deshalb, weil er vom Betrüger selbst moralisch als weniger verwerflich empfunden und damit akzeptabel wird. So können sich dann eben auch anfangs kleine Unaufrichtigkeiten Schritt für Schritt zu skandalösen Betrugsfällen hochschaukeln. Erwähnenswert ist vermutlich noch, dass dieser Gewöhnungseffekt immer nur dann eintritt, wenn man auch zum eigenen Vorteil lügt, nicht aber, wenn man zum Vorteil anderer betrügt. Mehr noch: Wenn der Betrug einem selbst nützt, gleichzeitig aber anderen schadet, ist der Effekt sogar am größten. Moralisch zweifelsohne verwerflich, aber so ist der Mensch! Ich fürchte, das kennen Sie auch… 

ZUR PERSON

Prof. Dr. Schulze
Hirnforscher
Holger.Schulze@uk-erlangen.de

Prof. Dr. Schulze ist Leiter des Forschungslabors der HNO-Klinik der Universität Erlangen-Nürnberg sowie auswärtiges wissenschaftliches Mitglied des Leibniz-Instituts für Neurobiologie in Magdeburg. Seine Untersuchungen zielen auf ein Verständnis der Neurobiologie des Lernens und Hörens.

www.schulze-holger.de

Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 12/16 ab Seite 12.

Prof. Dr. Holger Schulze

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