© bowie15 / iStock / Getty Images Plus
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Kolumne | Prof. Dr. Aglaja Stirn

WELCHER ABSTAND IST NORMAL?

Wir alle kennen es, wenn der Abstand zum Gegenüber Unbehagen oder Verunsicherung hervorruft. Kommt uns jemand zu nah, können wir das als distanzlos empfinden, zu fern kann als Ablehnung oder Distanzierung interpretiert werden.

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Zumeist regulieren wir den Abstand automatisch und gestalten interaktiv die passende Entfernung. Dabei gibt uns unser Gehirn permanent Rückmeldung, ob wir zu nah oder zu fern sind. Abstand hat kulturell für uns mit der Beziehungsgestaltung zu tun. Wie groß ein „normaler“ Abstand bei den unterschiedlichen Beziehungen ist, lässt sich sogar relativ genau beziffern: Während im öffentlichen Raum ein Abstand von mehr als 3,60 Meter als normal gilt, halten Fremde und Geschäftspartnern einen Abstand zwischen 1,20 bis 3,60 Meter zueinander ein, man spricht von einer sozialen Zone.

In der persönlichen Zone jedoch, also unter Freunden, rückt man sogar unter 1,20 Meter zueinander auf. Natürlich hängt diese persönliche Zone auch von unserer Stimmung, dem Kontext, der Persönlichkeit – ängstliche Menschen brauchen zumeist mehr Schutzraum – und dem Gegenüber ab. Sobald es sich um einen Partner oder die Familie handelt, beginnt die Intimzone und der Abstand der Personen schmilzt auf bis zu 45 Zentimeter. Diese persönliche Distanz- und Nähezone gibt es auch im Tierreich. Die Lehre vom Abstand er- forschte der Anthropologe Edward T. Hall und nannte es die Lehre von der Proxemik. Abstandregulierung ist eine Form der nonverbalen Kommunikation und sagt etwas über die Beziehung aus.

Auch das kennen wir alle: Eine nicht gewollte Nähe löst sofort Alarmsignale aus oder bei einem Streit mit dem Partner nehmen wir nicht nur seelischen, sondern auch körperlichen Abstand. Nähe zeigt wiederum Vertrauen an. Das macht verletzlicher und angreifbarer. Die Forschung hat sich vielfach damit beschäftigt, wie es empfunden wird, wenn eine andere Person einem ungewollt zu nah kommt. Zurzeit haben wir aber eine ganz andere Thematik, nämlich einen gesetzlich geregelten Abstand für die persönliche Zone, also für Freunde und Bekannte. Mit der jetzigen Vorgabe, 1,50 Meter Abstand zu halten, kommen wir vor allem in der persönlichen und auch sozialen Zone in Konflikt, da wir es gewohnt sind, unter Freunden näher zusammenzurücken oder uns zu berühren, sei es, um uns die Hand zu geben oder auch für ein Küsschen auf die Wange. Das ist für uns neu.

Was macht das mit uns? Die in uns gespeicherte Information, dass Abstand auch innerliche Distanz heißt, konfligiert hier mit dem Empfinden, dass das Gegenüber ein Freund ist. Geht es Ihnen jetzt auch öfters so, dass Sie voller Freude eine Freundin umarmen wollen und Sie verharren in der Bewegung, weil der Verstand Sie zurückpfeift, da wir es ja eigentlich nicht sollen? Man behandelt die Freundin körperlich gesehen wie einen Fremden. Freunde, die man in der persönlichen Zone empfangen möchte, müssen wir in die soziale Zone verbannen. Es ist gut, sich dessen bewusst zu werden, da wir die nonverbalen Kommunikationsparameter in der jetzigen Zeit neu definieren müssen. Ich bin auf jeden Fall froh, wenn ich meine Freundinnen und Freunde wieder umarmen kann.

Den Artikel finden Sie auch in DIE PTA IN DER APOTHEKE 07/2020 auf Seite 12.

Zur Person
Professor Dr. Aglaja Stirn ist Direktorin des Instituts für Sexualmedizin und forensische Psychiatrie und Psychotherapie, Fachärztin für Psychosomatische Medizin, Gruppentherapie, Psychoanalyse und Sexualtherapie an der Universität Kiel, Zentrum für Integrative Psychiatrie ZIP.
www.zip-kiel.de 

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