© bowie15 / iStock / Getty Images Plus
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Kolumne | Prof Dr. Aglaja Stirn

WELCHE RITUALE HABEN SIE?

Schon ritualisiert sitze ich an diesem Sonntag an meiner nächsten Kolumne, die monatlich erscheint. Zuvor gewaschen und geduscht, Kaffee getrunken … und nun am Schreibtisch.

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Bei mir ist dieses feste Ritual der Einstieg in die Schreibarbeit – und jeder handhabt das anders. Egal welche Form die Rituale annehmen: Sie geben einem vor allem Sicherheit und Vertrauen. Das tägliche Morgenritual, aufstehen, dann waschen, duschen, Kaffee trinken, Zeitung lesen oder den Kaffee im Bett trinken…wie dieser Ablauf ist, hat jeder für sich persönlich konstruiert und behält ihn zumeist bei. Eine Veränderung des Ablaufs kann den einen oder anderen empfindlich stören, und sei es nur, den Kaffee nicht im Bett zu trinken, sondern am Kiosk oder kein Dusche nehmen zu können. 

»Rituale schaffen Sicherheit und Vertrauen.«

Rituale sind ein evolutionäres Erbe, sie machen Sinn und sie reduzieren die Energieverschwendung, die man für Neues braucht – sie tragen also zur positiven Energiebilanz bei – da es sich um wiederholte Handlungen handelt. Rituale sind untrennbar mit der menschlichen Natur verbunden. Es gibt sie in allen Kulturen, Gesellschaften und Zeiten. Sie geben Sinn und Halt. Und das besonders in Krisenzeiten: Wissenschaftler konnten zeigen, dass die Durchführung von Ritualen Ängste minimiert. Man tut etwas, hat mehr Kontrolle, weiß um das, was als nächstes geschehen wird, kann damit Vorhersagen treffen und ist dem Geschehen nicht nur hilflos ausgeliefert. Das beruhigt. Rituale sind für Familien unverzichtbar, weil sie den Zusammenhalt fördern und eine gemeinsame Identität stiften. 

Biologisch gesehen sind Rituale keine Verschwendung. Familienrituale zeigen damit auch, wer zusammengehört, wer dazu gehört und wer nicht. Manche Rituale treiben die Menschen jedoch auch bis zur Erschöpfung, wenn sie krankhaft wiederholt werden, wie es bei Zwangshandlungen ist: Eigentlich will der Zwang die Angst minimieren, aber er erschöpft sich in überflüssigen Wiederholungen. Andererseits können Rituale aber auch Machtstrukturen festigen, wenn der Chef immer am Kopfende sitzt und zuerst bedient wird. Oder denken Sie an das Zeremoniell bei einer Inthronisation.

Und auch die Rituale beim Arzt oder Heiler bewirken Machtstruktur. Öffentliche Rituale der Macht wirken umso besser, je mehr sie auf Gegenseitigkeit beruhen. Wichtig sind natürlich die kleinen Rituale der Beziehung, der Liebe, sei es der Kuss am Morgen, die mitgebrachten Blumen, die Geburtstagsrituale und auch die Rituale zum Abitur, zur Prüfung oder zur Kommunion und Konfirmation. Sie stiften Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft und einen Übergang von einem Zustand zum anderen. Rituale sind etwas sehr Wichtiges und gestalten uns, nicht nur wir sie. Achten Sie mal auf Ihre Rituale, was machen sie für einen Sinn und wie viele Rituale haben Sie unbemerkt überhaupt?

Den Artikel finden Sie auch in DIE PTA IN DER APOTHEKE 11/2020 auf Seite 12.

Zur Person
Professor Dr. Aglaja Stirn ist Direktorin des Instituts für Sexualmedizin und forensische Psychiatrie und Psychotherapie, Fachärztin für Psychosomatische Medizin, Gruppentherapie, Psychoanalyse und Sexualtherapie an der Universität Kiel, Zentrum für Integrative Psychiatrie ZIP.
www.zip-kiel.de

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