Der Amazonas von oben
Lebensräume müssen nicht nur geschützt, sondern auch wiederhergestellt werden, um die Artenvielfalt zu erhalten. ©filipefrazao / iStock / Getty Images Plus

Biodiversität | Artensterben

VERFALL VON ÖKOSYSTEMEN UNTERSCHÄTZT

Vertreibung, Vernichtung, Degradation – Habitatverlust. Um das Aussterben von Tieren und Pflanzen zu verringern, müssen deren Lebensräume geschützt und wiederhergestellt werden. Doch die entsprechenden politischen Maßnahmen dagegen scheinen nicht ausreichend.

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Je größer der Lebensraum, desto größer ist die Artenvielfalt – eine grundlegende Theorie im Bereich der Biodiversitätsforschung. Im Umkehrschluss bedeutet das: Wenn Lebensräume zerstört werden, geht die Zahl der dort lebenden Arten zurück. Mithilfe dieser Theorie können Ökologen vorhersagen, wie viele Arten voraussichtlich aussterben werden, wenn der Mensch ihren natürlichen Lebensraum zerstört. Aber auch wie viele durch entsprechende Schutzmaßnahmen geschützt werden könnten. Doch die Vorhersagen sind nicht ohne Fehler.

Eine globale Analyse
Mithilfe statistischer Methoden und Datensätzen aus 123 Studien zu isolierten Lebensräumen, sogenannten Habitatinseln, auf der ganzen Welt konnten Prof. Dr. Jonathan Chase, Leiter der Forschungsgruppe Biodiversitätssynthese bei iDiv und Professor an der MLU, und seine Kollegen nun nachweisen, dass der Verfall von Ökosystemen weit verbreitet ist. Dazu zählten Inseln von Resten tropischen Regenwaldes inmitten landwirtschaftlich genutzter Flächen (beispielsweise zum Anbau von Ölpalmen), Inseln innerhalb von Seen, die durch das Anlegen von Staudämmen zur Gewinnung von Strom aus Wasserkraft entstanden waren. Weitere Untersuchungsgebiete waren isolierte Naturschutzgebiete innerhalb sich ausdehnender landwirtschaftlicher und städtischer Gebiete auf der ganzen Welt. Die Studien befassten sich sowohl mit Pflanzen als auch mit einer Vielzahl von Tieren.

Während ihrer Untersuchungen fanden die Forscher heraus, dass Stichproben aus kleinen Habitatinseln weniger Individuen und weniger Arten beherbergen als Stichproben der gleichen Größe und Struktur, die aber in größeren Habitatflächen liegen. Auch werden sie stärker von wenigen, dafür aber sehr häufigen Arten dominiert.

Jonathan Chase sagt: „Die mathematischen Modelle, die für Vorhersagen zur Biodiversität verwendet werden, ignorieren typischerweise die Auswirkungen des Verfalls von Ökosystemen. Das liegt daran, dass wir bis jetzt keine stichhaltigen Beweise dafür hatten, wie stark diese Auswirkungen über verschiedene Ökosysteme und Arten hinweg tatsächlich sind.“ Chase fügt hinzu: „Das bedeutet, dass die meisten Vorhersagen unterschätzen, wie viel biologische Vielfalt verloren geht, wenn Lebensräume zerstört werden.“

Darüber hinaus hat laut den Studienergebnissen die Qualität der Flächen zwischen den Habitatinseln (Matrix) einen Einfluss darauf, wie stark die Auswirkungen des Verfalls waren. „Wenn die Matrix sich stark von den Habitatinseln unterschied, wie bei Landschaften mit intensiver Nutzung oder städtischen Gebieten, war der Verfall der Ökosysteme in den Habitatinseln sehr deutlich. Wenn die Matrix aber extensiv genutzt wurde, wie eine vogel- oder bienenfreundliche Landwirtschaft, dann war der lokale Artenverlust geringer“, erklärt Dr. Felix May, der zuvor bei iDiv forschte und heute als Wissenschaftler an der Freien Universität Berlin tätig ist.

Co-Autorin Prof. Dr. Tiffany Knight, die an der MLU, dem UFZ und bei iDiv forscht, fügt hinzu:

Was uns überrascht hat, war, dass der Verfall von Ökosystemen in den Studien aus Europa dort schwächer ausgeprägt war, wo Lebensräume oft schon vor vielen Hundert Jahren verlorengegangen waren. Im Gegensatz zu Studien aus anderen Regionen, wo der Verlust noch nicht so lang zurücklag. Wir hatten eigentlich das Gegenteil erwartet, nämlich dass der Verfall von Ökosystemen mit dem Aussterben von Arten langsam voranschreitet. Stattdessen fanden wir heraus, dass ausgestorbene Arten von anderen ersetzt worden waren, die besser an genutzte Landschaften angepasst sind.

Die Ergebnisse der neuen Studie sind eine wichtige Grundlage für zukünftige Szenarien, auch wenn sie ein unheilvolles Bild zeichnen. Denn sie zeigen, dass viele Vorhersagen zum Verlust der Biodiversität zu optimistisch sind. Doch die Wissenschaftler ziehen eine positivere Sichtweise vor: „Wir haben herausgefunden, dass es möglich ist, realistischere Vorhersagen dazu zu machen, wie stark die Biodiversität unter dem Verlust von Lebensräumen leidet“, meint Chase. „Damit ist es auch möglich, bessere politische Rahmenbedingungen für den Schutz von Lebensräumen zu schaffen. Und es stellt einen zusätzlichen Anreiz dar, Lebensräume zu renaturieren, um so auch die biologische Vielfalt darin wiederherzustellen.“

Sabrina Peeters,
Redaktionsvolontärin

Quellen: 
idw-online
Jonathan M. Chase, Shane A. Blowes, Tiffany M. Knight, Katharina Gerstner and Felix May (2020). Ecosystem decay exacerbates biodiversity loss with habitat loss. Nature. DOI: 10.1038/s41586-020-2531-2

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