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Verhaltensauffälligkeiten Bei Kindern

PROBLEME MIT ZAHLEN

Im Fach Mathematik gibt es immer Kinder, denen das Lernen besonders schwer fällt, weil sie mit Zahlen nicht viel anfangen können. Manche von ihnen leiden unter einer sogenannten Dyskalkulie.

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Gute Rechenfertigkeiten sind in unserer Gesellschaft ebenso gefragt wie gute Lesefertigkeiten. Dies trifft nicht nur auf die Schulzeit zu, sondern bezieht sich auch auf das Berufsleben. Wer mit gravierenden Schwierigkeiten kämpft, muss mit Einschränkungen im Alltag (beim Einkaufen, beim Einparken) sowie bei der Berufswahl rechnen. Denn Personen, die nicht gut mit Zahlen umgehen können, sind für Berufe, die den Umgang mit (Wechsel-) Geld erfordern (Kassierer, Bankangestellte oder Verkäufer) ungeeignet. Auch naturwissenschaftliche Bereiche sind meist mathematiklastig (Chemie oder Physik) und werden von Menschen mit Dyskalkulie in der Regel umgangen. Bei der Dyskalkulie handelt es sich um eine spezifische Störung in der Entwicklung der Rechenleistung. Normalerweise beginnt ein Kind im Alter zwischen 14 und 16 Monaten das Konzept der Ordinalität (die Ordnungsbeziehung zwischen Zahlen) zu begreifen.

Kurz darauf verwendet es Begriffe wie „viel“, „wenig“, „groß“ oder „klein“ für Mengen und Größen. Mit drei Jahren sind die meisten Kinder dazu in der Lage, etwa fünf Gegenstände zu zählen, auch wenn ihnen die genaue Bedeutung der Angaben noch nicht deutlich ist. Bittet man die Kinder um einen Gegenstand, so erhält man in der Regel auch nur eine Sache. Fragt man nach einer Anzahl von zwei, drei, vier oder fünf, geben die Zöglinge meist eine größere Anzahl als eins, jedoch eine meist falsche Menge, heraus. Dennoch begreifen sie dann bereits, dass sich die Menge der Dinge mit der Zahlenbezeichnung ändert. Im Alter von dreieinhalb bis vier Jahren erfassen Kinder das Prinzip der Kardinalität (die letzte Zahl einer Zählfolge ist die Anzahl der Menge). Danach beginnt der Nachwuchs zu zählen, um erste, einfache Auf- gaben zu lösen. Wenn das Kind schließlich die grundlegenden Rechenarten verstanden hat, gelingt das Rechnen immer schneller und mit viel Übung ist es möglich, Lösungen automatisch aus der Erinnerung abzurufen. Eltern sollten ihren Kindern verschiedene Gelegenheiten zum Zählen und Ver- gleichen von Mengen geben, damit die Kenntnisse leichter erlernt werden.

Zählen mit der Hand Manche Kinder rechnen beharrlich mit den Fingern, insbesondere von Dyskalkulie Betroffene. Der Umkehrschluss ist jedoch noch lange nicht, dass jeder, der mit den Fingern rechnet, unter einer Rechenschwäche leiden. Die Finger-Methode ist eine der ersten, die sich unabhängig von anderem Anschauungsmaterial einfach durchführen lässt. Sie liefert zuverlässige Ergebnisse, wenn auch nur in einem sehr kleinen Zahlenraum. Vor allem unsichere Kinder verlassen sich gerne auf diese Strategie, welche stets das richtige Ergebnis liefert. Fehler mit einer Abweichung von eins (wie 2 + 3 = 6) deuten in der Regel darauf hin, dass noch immer zählend gerechnet wird. Dies geschieht durch mehr oder weniger verdecktes Fingerzählen sowie durch Weiterzählen im Kopf.

Mögliche Ursachen Rechenstörungen können auf einer genetischen Disposition beruhen. Forscher fanden heraus, dass 42 Prozent der rechenschwachen Kinder Familienangehörige ersten Grades mit Lern- störungen hatten. Auch frühkindlich bedingte Hirnfunktionsstörungen, schuldidaktische oder psychosoziale Faktoren kommen als Auslöser in Betracht. Darüber hinaus gehen verschiedene Erkrankungen mit Dyskalkulien einher – Heranwachsende mit Epilepsie, Turner-Syndrom oder Phenyl- ketonurie sind häufig im Bereich der Schulfertigkeiten eingeschränkt.

Diagnostik Laut ICD-10 liegt eine Rechenstörung (F81.2) vor, wenn die Einschränkung der Rechenfertigkeiten nicht alleine auf eine Intelligenzminderung, eine eindeutig unangemessene Beschulung, auf Defizite im Hören, Sehen oder in neurologischen Funktionen zurückzuführen ist. Ebenso darf die Dyskalkulie nicht durch psychiatrische oder weitere Erkrankungen ausgelöst sein. Die Rechenleistung eines Kindes mit Dyskalkulie liegt unterhalb des Niveaus, welches aufgrund der allgemeinen Intelligenz, des Alters und der Schulklasse zu erwarten ist. Es ist sinnvoll, dies anhand von standardisierten Einzeltests für Rechenfertigkeiten einzustufen. Die Probleme betreffen meist die Beherrschung grundlegender Rechenfertigkeiten wie Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division, weniger die höheren mathematischen Fertigkeiten, die für Algebra, Trigonometrie, Geometrie oder Differential- und Integralrechnung benötigt werden.

Dyskalkulie sagt nichts über die Intelligenz aus. Unter den Betroffenen befinden sich oftmals Menschen mit überdurchschnittlichem IQ.

Geschichtliches Die ersten Berichte von Betroffenen mit erworbenen Rechenstörungen wurden 1919 von Henschen publiziert, der den Begriff der Akalkulie einführte. Er zeigte, dass die Störung sich unterschiedlich äußern kann und zwar als isoliertes Symptom etwa nach einer Hirnschädigung oder in Kombination mit Sprach-, Lese- oder Schreibstörungen. Henschen erkannte damals auch die Beeinträchtigung des Identifizierens und Lesens arabischer Zahlen, diese kann unabhängig vom Gelingen der Rechenoperationen auftreten.

Hilfe für Betroffene Für die Behandlung von Rechenstörungen ist es sinnvoll, sie als multikausal beeinflusst zu betrachten. Zunächst sollten Eltern gefragt werden, ob sie sich die Problematik ihres Kindes erklären können. Auch die Betroffenen selbst sollten diesbezüglich angehört werden. Aufgrund der an den schlechten Rechenleistungen beteiligten zahlreichen Einflüsse ist ein integrativer Therapieansatz indiziert, der neuropsychologische, verhaltenstherapeutische sowie pädagogische Elemente einbezieht. Matheheftreihen aus verschiedenen Verlagen bieten eine große Aufgabenauswahl zum Trainieren, wobei es wichtig ist, die Übungen an das individuelle Leistungsniveau des Kindes anzupassen. Zu den verhaltenstherapeutischen Verfahren zählen Pläne zur Motivationsförderung oder Selbstinstruktionsverfahren, die den Problemlöseweg strukturieren und dem Kind auf diese Weise Sicherheit geben.

Zu den neuropsychologischen Trainings gehören Förderungen für Kinder mit Gedächtnisstörungen oder mit räumlich-konstruktiven Problemen. Ein weiterer Ansatzpunkt besteht in der Schulung von Eltern und Lehrern, um den Aufbau von Erziehungskompetenzen zu unterstützen. Bezugspersonen erhalten Informationen über ein adäquates Anspruchsdenken sowie über Interaktionsstrategien, mit denen die Lernsituation positiv gestaltet werden kann (zum Beispiel das Fokussieren auf richtige Lösungen statt auf Fehler). Sogenannte Serious Games stellen einen neuen Ansatz im Bereich der Behandlung von Rechenschwächen dar. Darunter versteht man digitale Spiele, die nicht ausschließlich der Unterhaltung dienen, sondern auch Information und Bildung vermitteln. Die Computerspiele passen sich an den individuellen Lernfortschritt an und unterstützen Betroffene gezielt. Meister Cody – Talasia ist ein Beispiel für ein derartiges Programm, welches speziell für Kinder mit Dyskalkulie von Wissenschaftlern der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster entwickelt wurde. Eine Evaluation ergab, dass bei einem täglichen Spielaufwand von 30 Minuten über sechs Wochen die mathematischen Fähigkeiten um etwa 40 Prozent verbessert werden konnten. 

Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 05/17 ab Seite 134.

Martina Görz, PTA und Fachjournalistin

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