Mehrere Kännchen und Gläser voll Milch stehen auf einem Tisch unter einem Baum auf einer Kuhweide.
Milch ist nahrhaft - und verschafft denjenigen, die sie verdauen können, somit einen Evolutionsvorteil. © Davizro / iStock / Getty Images Plus

Forschungsergebnisse | Lactasepersistenz

MILCH MACHTE SCHON IN DER BRONZEZEIT MOBIL

Europäer vertragen erst seit wenigen tausend Jahren Milch. Das ist evolutionstechnisch nicht besonders lang. Doch warum passten sich die Menschen an dieses spezielle, artfremde Nahrungsmittel an?

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Am Fluss Tollense im heutigen Mecklenburg-Vorpommern trafen um 1200 vor Christus tausende Krieger aufeinander. Viele davon kamen um, und ihre Knochen liefern heutigen Archäologen wertvolle Hinweise. Der Populationsgenetiker Joachim Burger von der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz war mit der Frage beschäftigt, ab wann Menschen Milch von Kühen verdauen konnten. Denn nach dem Säuglingsalter verlieren fast alle Säugetiere – auch der Mensch – die Fähigkeit, den in der Milch enthaltenen Zucker Lactose zu verdauen.

Als die Menschen jedoch in der Jungsteinzeit vor rund 7500 Jahren begannen, Vieh zu halten und zu nutzen, wurde es für sie von Vorteil, auch als Erwachsene noch Milch trinken zu können. Dafür benötigten sie allerdings das Enzym Lactase, das den Milchzucker spaltet. Damit der Körper das Enzym auch im Erwachsenenalter noch produziert, ist eine bestimmte Genvariante erforderlich.

Auf diese Genvariante untersuchte nun Burger 14 der an der Tollense gefallenen Krieger, zwei davon weiblich. Das Ergebnis: Nur einer trug das dafür nötige Gen. Alle anderen waren offenbar lactoseintolerant. „Von der heutigen Bevölkerung desselben Gebietes verfügen 90 Prozent über dieses Merkmal, die sogenannte Lactasepersistenz“, sagt Burger – heute kann man also größtenteils Milch verdauen. „Dieser Unterschied ist enorm, wenn man bedenkt, dass nicht viel mehr als 120 Menschengenerationen dazwischenliegen.“

Es muss einen Grund geben, warum sich die Genvariante so schnell verbreitet hat – denn das ist evolutionsgeschichtlich Turbo-Geschwindigkeit. Zunächst spekulierte man, dass Völkerwanderungen dazu geführt haben, dass heute mehr Menschen mit Lactasepersistenz in Mecklenburg-Vorpommern leben – bevor man auf die eigentlich naheliegendste Erklärung kam. „Wir schließen daraus, dass lactasepersistente Individuen im Verlauf der letzten 3000 Jahre mehr Kinder bekommen haben, beziehungsweise dass diese Kinder bessere Überlebenschancen hatten als jene ohne dieses Merkmal“, schlussfolgert Co-Autor Daniel Wegmann etwas umständlich. Im Klartext: Milch war nahrhaft und kostenlos von der Kuh im Stall erhältlich, deshalb gediehen Kinder, die sie vertrugen, in Zeiten ewiger Nahrungsknappheit prächtig.

Auf sechs Prozent rechneten die Forscher den Selektionsvorteil der Milchtrinker. Das heißt, auf 100 lactoseintolerante Nachkommen kamen 106, die auch als Erwachsene noch Milch verdauen konnten. „Damit ist das entsprechende Gen das am stärksten positiv selektierte im ganzen menschlichen Genom“, erklärt Burger beinahe bewundernd die pfeilschnelle Anpassungsfähigkeit des Menschen.

Dann zerbrachen sich die Forscher noch den Kopf darüber, welche evolutionären Vorteile es hatte, auch nach dem Säuglingsalter noch Milch trinken zu können. Wahrscheinlich hätten dabei verschiedene Faktoren zusammengespielt: Milch liefert viele Kalorien und Nährstoffe und ist außerdem im Vergleich zum damals verfügbaren Trinkwasser relativ wenig mit Krankheitserregern kontaminiert. Zusätzlich konnten Menschen in nördlichen Breiten mit geringer Sonneneinstrahlung wohl besonders davon profitieren, höhere Mengen Vitamin D und Calcium mit der Nahrung aufzunehmen. „Gerade in der frühen Kindheit, also in den Jahren nach dem Abstillen, mag das in prähistorischen Populationen immer wieder entscheidend gewesen sein.“

Erstaunlich findet Burger höchstens eines: „Dass zur Zeit des Konfliktes an der Tollense, mehr als 4000 Jahre nach der Einführung der Landwirtschaft in Europa, die Milchverträglichkeit bei Erwachsenen immer noch so selten war.“ Dafür konnten dann weniger als 2000 Jahre später, im frühen Mittelalter, bereits über 60 Prozent der europäischen Erwachsenen Milch trinken.

Alexandra Regner,
PTA und Journalistin

Quelle: wissenschaft.de

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