Kolumne | Holger Schulze

KÖRPERLOS

Der Verlust der Wahrnehmung des eigenen Körpers nach Hirnläsion ist ein äußerst seltenes Phänomen. Eine einfache Therapie kann offenbar helfen.

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Kennen Sie das auch? Das seltsame Gefühl, das man empfindet, wenn einem zum Beispiel eine Hand eingeschlafen ist? Wenn man diese dann mit der anderen Hand berührt, so spürt man entweder gar nichts oder nur ein unspezifisches Kribbeln, das mit der eigentlichen Berührung gar nichts zu tun hat. Die Ursache eines solchen Taubheitsgefühls ist meist harmlos und beruht auf einer vorrübergehenden Störung der Nervenleitung, etwa weil der entsprechende sensible Nerv, der die Hand versorgt, durch eine ungünstige Körperhaltung eingeklemmt oder nur unzureichend mit Sauerstoff versorgt wurde.

Aber selbst wenn die Hand völlig gefühllos ist, so kämen Sie doch nie auf die Idee, dass sie gar nicht mehr zu Ihrem Körper, zu Ihrem Selbst gehört, oder? Dennoch kommt es vor, dass Menschen eigene Körperteile, beispielsweise eine Hand oder einen Arm, nicht mehr als zu ihrem Körper dazugehörig wahrnehmen! In einem besonders seltenen Fall wurde unlängst ein Patient beschrieben, der nicht nur einen Körperteil als nicht mehr zu sich selbst zugehörig empfand, sondern gleich seinen ganzen Körper! Ursache dieser Störung war offenbar ein Hirntumor im Hinterhorn des rechten Seitenventrikels, welcher in die angrenzenden Hirnbereiche ausstrahlte. 

»Manche Menschen „verlieren“ ihren Körper.«

Der Patient beschrieb seinen Zustand als ein Gefühl, in dem er seinen gesamten Körper nicht als sein Eigen empfand, wenngleich er genau wusste, dass es sich faktisch um seinen Körper handelte. Gleichzeitig hatte er keinerlei taktile Empfindungsstörungen oder Probleme, die eigene Körperstellung im Raum wahrzunehmen. Bei einem Test, in dem er den Körper einer anderen Person zeichnen sollte, gelang ihm dies problemlos. Bei der Aufgabe aber, den eigenen Körper zu zeichnen, skizzierte er nur seine Hände, also den Teil, den er gerade visuell wahrnahm.

Laut eines Modells können solch bizarr anmutende Funktionsstörungen des Gehirns auf Problemen der multisensorischen Integration beruhen, der Fähigkeit des Gehirns also, Sinneseindrücke verschiedener sensorischer Modalitäten zur Deckung zu bringen und den jeweiligen Körperteilen richtig zuzuordnen: Das Gefühl, wie die eigene Hand den Bauch berührt, kann dann also zum Beispiel nicht mit der visuellen Information verknüpft werden, wenn man die Hand auf dem Bauch betrachtet. Im beschriebenen Fall konnte eine verblüffend einfache Therapie dem Patienten helfen: Dieser wurde angewiesen, seinen Körper dreimal fünf Minuten am Tag im Spiegel zu betrachten und dabei verschiedenen Körperpartien mit den Händen zu berühren, und bereits nach zwei Wochen war das Gefühl, den eigenen Körper nicht mehr zu besitzen verschwunden!

So einfach die Lösung für dieses seltsame Problem auch war, so nachdenklich macht uns der Fall doch: Wir erkennen, dass wir unser Selbst als Einheit wahrnehmen, obwohl die Repräsentation unseres Körpers innerhalb des Gehirns eher ein aus vielen Teilen bestehendes Puzzle zu sein scheint, dessen Teile nicht nur alle vorhanden, sondern auch richtig zusammengesetzt sein müssen. Faszinierend, finden Sie nicht auch?

Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 12/19 auf Seite 12.

Zur Person

Prof. Dr. Schulze Hirnforscher
Holger.Schulze@uk-erlangen.de 

Prof. Dr. Schulze ist Leiter des Forschungslabors der HNO-Klinik der Universität Erlangen-Nürnberg sowie auswärtiges wissenschaftliches Mitglied des Leibniz-Instituts für Neurobiologie in Magdeburg. Seine Untersuchungen zielen auf ein Verständnis der Neurobiologie des Lernens und Hörens.

www.schulze-holger.de 

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