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Interview

ICH HÖRE WAS, WAS DU NICHT HÖRST

Das Klingeln, Brummen oder Pfeifen im Ohr kann auf Dauer für die Betroffenen zur Belastung werden. Welche neurobiologischen Mechanismen hierbei eine Rolle spielen, erforscht Prof. Dr. Holger Schulze.

Seite 1/1 9 Minuten

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Was genau ist ein Tinnitus und wie entsteht dieser?
Unter Tinnitus, zu deutsch Ohrgeräusch oder umgangssprachlich Ohrensausen, versteht man Hörempfindungen in Abwesenheit eines externen akustischen Reizes. Man unterscheidet heute grundsätzlich zwei Klassen von Entstehungsmechanismen für Tinnitus, die als objektiv beziehungsweise subjektiv bezeichnet werden: Beim objektiven Tinnitus lässt sich der Höreindruck auf eine körpereigene, in der Nähe des Ohres befindliche und auch von Außenstehenden wahrnehmbare physikalische Schallquelle zurückführen. Dies kann etwa durch pathologische Gefäßveränderungen, wie Stenose der Arteria carotis oder eine persistierende Arteria stapedia, entstehen.

Subjektiver Tinnitus hingegen zeichnet sich durch das Fehlen einer solchen Schallquelle aus und muss daher auf fehlerhafter Informationsbildung im auditorischen System beruhen. Während die Ursachen von objektivem Tinnitus in der Regel operativ zu beseitigen sind, herrscht trotz jahrzehntelanger Bemühungen bis heute Unklarheit über die pathophysiologischen Vorgänge bei und geeignete Therapieverfahren für subjektiven Tinnitus. Gängige Modelle gehen davon aus, dass initial eine Schädigung des Innenohres die Entwicklung eines Tinnitusperzepts auslöst. Es kommt dabei durch die gestörte Aktivierung des zentralen Hörsystems im Bereich der geschädigten Stelle zu verringerter Hemmung der Nachbarbereiche der Schädigung, die dadurch übererregt werden. Diese Übererregung wird dann als Tinnitus wahrgenommen.

Subjektiver Tinnitus entsteht also im Gehirn, nicht im Ohr, auch wenn dort die primäre Ursache zu suchen ist. Haben die pathologischen Veränderungen im Gehirn aber erst einmal stattgefunden, so ist der Tinnitus chronisch und kann auch durch Behandlungen des Ohres nicht mehr kuriert werden. Neue Verfahren, die die Neuroplastizität des Gehirns nutzen, um die pathologischen Veränderungen dort rückgängig zu machen und so den Tinnitus zu beseitigen, sind also die im Moment vielversprechendsten Therapieansätze. Wenngleich es eine Reihe von Belegen für diese Theorie gibt, sowohl in Tierexperimenten als auch in Humanstudien, vermag das Modell doch nicht die große Bandbreite der verschiedenen Tinnitusformen zu erklären. Völlig unklar ist zum Beispiel immer noch, wieso manche Patienten ohne Hörschaden einen Tinnitus bekommen können.

Hyperakusis und Tinnitus – besteht ein Zusammenhang?
Ersteres ist ähnlich wie der Tinnitus ein Phänomen mit noch weitgehend unklarer Genese. Möglicherweise spielen hier Schädigungen der äußeren Haarzellen des Innenohres eine Rolle, die zu der übersteigerten Hörempfindung führen können. Unklar bleibt, wieso manche Patienten auch nach Erholung eines initialen Hörschwellenverlustes weiterhin unter Hyperakusis leiden. Die Verbindung zum Tinnitus besteht darin, dass als ursächlich für beide Erkrankungen eine Innenohrschädigung angenommen wird, weswegen beide Phänomene auch zusammen auftreten können.

Kann sich aus einem Hörsturz ein Tinnitus entwickeln?
Ja. Wie erwähnt wird eine Schädigung der Schallempfindung des Innenohres als ursächlich für die Entstehung eines subjektiven Tinnitus angesehen.

Wie viele sind betroffen?
Einen vorübergehenden Tinnitus, etwa nach einem Rockkonzert, hat vermutlich jeder schon einmal erlebt. Die oben beschriebenen problematischen, weil noch immer kaum zu behandelnden Fälle von chronischem subjektivem Tinnitus treten bei etwa 10 bis 15 Prozent der erwachsenen Bevölkerung auf. Als Folgen können häufig Konzentrationsprobleme, Schlaflosigkeit, Angstzustände und Depressionen entstehen, mit teilweise erheblichen Einschränkungen des täglichen Lebens bis hin zur Berufsunfähigkeit.

In Deutschland gehen wir von rund drei Millionen Betroffenen aus, wovon eine Million in ihrem normalen Leben so beeinträchtigt sind, dass wir von einem dekompensierten Tinnitus sprechen. In ein bis drei Prozent der Patienten wird der Leidensdruck so groß, dass er zum Suizid führt. Tinnitus stellt also ein erhebliches gesellschaftliches Problem dar und verursacht enorme Gesundheitskosten. Und dabei gehen wir wegen der ständig steigenden Lärmbelastung von weiter steigenden Zahlen aus.

Ist es ein „neuzeitliches Phänomen” oder litten schon unsere Vorfahren darunter?
Obwohl man es aufgrund unserer modernen Umweltsituation mit ständig steigenden Lärmbelastungen vermuten könnte, ist Tinnitus keineswegs ein neuzeitliches Phänomen. Tinnitus war bereits im Altertum bekannt: So empfiehlt etwa die babylonische Medizin bereits im 7. Jahrhundert vor Christus: „Wenn die Hand des Geistes einen Mann ergreift, und seine Ohren singen, so sollst Du Myrrhe zerreiben, in Wolle einrollen, und mit Zedernblut besprenkeln.” Daraufhin war ein Zauberspruch aufzusagen, den ich Ihnen aus Zeitgründen erspare.

 Auch in altägyptischen, altgriechischen und römischen Überlieferungen ist das Phänomen des Tinnitus erwähnt und auch hier bleiben Behandlungsvorschriften ähnlich hilflos. Plinius der Ältere empfiehlt etwa das in die Ohren Geben von gehäuteten, ausgeweideten und in Honig gekochten Haselmäusen oder von Regenwürmern in Gänseschmalz … dürfte freilich alles nicht funktioniert haben …

Wie wird üblicherweise behandelt – und wann, das heißt, sollte auch schon ein akuter Tinnitus therapiert werden oder erst ein chronischer?
Tinnitus sollte so früh wie möglich behandelt werden: In der akuten Phase, etwa nach einem Schalltrauma, besteht häufig noch die Chance, einen permanenten Hörschaden und somit die Entwicklung eines chronischen Tinnitus zu vermeiden. Ist der Tinnitus chronisch, so existiert keine echte Heilungsstrategie. Die verfügbaren Verfahren zielen derzeit eher darauf ab, den Tinnitus abzuschwächen, sodass man lernt, mit ihm zu leben.

»Nicht jeder, der bereits einen Hörschaden erlitten hat, bekommt auch automatisch einen Tinnitus.«

Zu nennen sind hier verschiedene Formen von Retrainingtherapien wie etwa das tailor-made notched music training, das von Professor Pantev in Münster entwickelt wurde. Ob Ginkgopräparate helfen, untersuchen wir derzeit in unserem Labor. Zumindest, dass sie die Ausbildung eines Hörschadens und Tinnitus nach Schalltrauma in der Akutphase lindern oder ganz verhindern können, konnten wir im Tiermodell bereits zeigen. Des Weiteren können mit dem Tinnitus auftretende Komorbiditäten wie etwa Depressionen durch entsprechende psychotherapeutische Maßnahmen behandelt werden. Aber wie gesagt, eine echte Heilung des chronischen subjektiven Tinnitus ist derzeit noch nicht möglich.

Sie haben eine Studie zum chronischen Tinnitus durchgeführt – warum an Mäusen?
Uns geht es darum, zunächst die neurophysiologischen Veränderungen im Gehirn zu untersuchen, die zum chronischen subjektiven Tinnitus führen. Dazu müssen die elektrischen Aktivitäten einzelner Nervenzellen in dem Teil der Großhirnrinde, der für das Hören zuständig ist gemessen werden. Da dazu der Schädel geöffnet werden muss, dies also eine invasive Methode ist, lässt sich das aus ethischen Gründen freilich am Menschen nicht durchführen. Die zur Verfügung stehenden nicht-invasiven Methoden, die man auch am Patienten durchführen könnte, wie MRT, PET oder MEG, haben keine ausreichende räumliche und zeitliche Auflösung für diese Art von Fragestellung. Daher sind wir also auf das Tierexperiment angewiesen.

Wie kann man bei Tieren feststellen, ob sie unter Tinnitus leiden?
Da man die Tiere nicht fragen kann, muss man hier Verhaltenstests verwenden, die einem sagen, was es wahrgenommen hat. Um nach einem Tinnitusperzept zu fahnden, bedient man sich hier eines Tricks: Man untersucht, wie gut die Tiere eine Lücke, also eine kurze Phase der Stille, in einem Rauschen wahrnehmen. Da die Tiere, die unter Tinnitus leiden, nie Stille erfahren und daher in der Lücke ihren eigenen Tinnitus hören, nehmen sie die Lücke schlechter wahr als solche, die keinen haben. Diesen Unterschied kann man im Verhalten messen.

Was ist das Neue an Ihren Ergebnissen?
Es ist uns in unserer jüngsten Studie erstmals gelungen, die Frage zu beantworten, warum manche Tiere nach einem Schalltrauma einen Tinnitus entwickeln, während andere, bei gleichem Hörschaden, dies nicht tun – ein Phänomen, dass es auch bei menschlichen Patienten gibt. Es zeigte sich, dass es eine Prädisposition für die Entwicklung gibt: Tiere, die später keinen Tinnitus entwickeln, haben VOR dem Schalltrauma bereits andere Aktivierungsmuster in ihrem Hörkortex als solche, die darunter leiden werden. Wir konnten zum Beispiel nachweisen, dass Tiere ohne Tinnitus vor dem Trauma viel stärkere Aktivierungen im Kortex aufwiesen als solche mit Tinnitus. Sie sind dadurch offenbar in der Lage, diese hohe Aktivität durch einen aktiven Hemmmechanismus zu reduzieren und so der Entstehung eines Tinnitus entgegenzuwirken.

Wie könnten diese in der Therapie helfen?
Die Vermutung, dass ein globaler hemmender Mechanismus im Hörkortex in der Lage ist, die Ausbildung eines chronischen Tinnitus zu verhindern, bringt uns dem Verständnis des Phänomens insgesamt einen Schritt näher. Dieses Verständnis ist unabdingbar zur Entwicklung echter Heilungsstrategien – schließlich können wir nichts beseitigen, das wir gar nicht kennen! Die beobachtete globale Hemmung in der Initialphase der Tinnitusentstehung könnte möglicherweise auch in der chronischen Phase künstlich ausgelöst werden und zu einer Heilung führen. Wie und wann genau dies durchzuführen wäre, ist aber derzeit noch Gegenstand aktueller Forschungen, nicht nur in meinem Labor, sondern weltweit. Wie gesagt, erst müssen wir den Tinnitus vollständig verstehen, untersuchen, was er im Gehirn verändert, ehe wir ihn gezielt bekämpfen können.

Wie lange wird es dauern, bis Betroffene davon profitieren würden?
Solche Prognosen sind immer schwierig. Ich bin mir – wie auch alle Kollegen, die an dem Problem arbeiten – des außerordentlichen Leidensdrucks der Betroffenen bewußt. Gerade deshalb aber ist es unverantwortlich, jetzt Hoffnung auf schnelle Heilung zu wecken, die dann möglicherweise nicht erfüllt werden kann – gerade Tinnituspatienten haben dies in der Vergangenheit leider oft erlebt.

Dennoch gibt es Anlass zur Hoffnung, denn noch nie gab es weltweit derart zahlreiche und intensive Anstrengungen zur Bekämpfung von Tinnitus. Insbesondere die Grundlagenforschung, wie auch wir sie betreiben, lieferte hier in den letzten Jahren eine Fülle neuer Erkenntnisse, und praktisch jede Woche erscheinen neue Arbeiten zu dem Thema. Wir sind dem Problem auf der Spur und ich hoffe, dass wir innerhalb der nächsten Dekade in der Lage sein werden, es zu lösen.

VITA

Prof. Dr. Holger Schulze wird im Oktober 1967 in Frankfurt am Main geboren. Nach dem Diplom in Biologie promoviert er 1996 im Bereich Zoologie/Neurobiologie in Darmstadt und wechselt an das Leibniz-Institut für Neurobiologie in Magdeburg, einem Institut für Lern- und Gedächtnisforschung. Dort wird er zwei Jahre später leitender Wissenschaftler. 2003 habilitiert er sich an der Medizinischen Fakultät der Otto-von- Guericke-Universität Magdeburg für das Fach Physiologie und folgt 2007 einem Ruf der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg auf eine W2-Professur für Experimentelle HNO-Heilkunde. In seiner Freizeit verfasst er Jugendbücher mit Lernhintergrund (siehe www.geheimbund-pegasus.de). Außerdem hat er zwei Kinder.

Hintergrund
Weitere Informationen zu Professsor Schulzes Studie finden Sie in seiner Kolumne auf Seite 12 – wie immer spannend beschrieben.

Exkurs: Deutsche Tinnitus- Liga (DTL) Hilfe zur Selbsthilfe bietet diese Organisation und Lobby der Tinnitus-, Hörsturz-, Hyperakusis- und Morbus-Menière-Patienten und ihrer Angehörigen. So können Mitglieder kostenlos Broschüren beziehen, Nichtmitglieder zahlen dafür einen geringen Betrag.
Themen sind unter anderem:

  • Akuter Tinnitus und Hörsturz (Was tun, wenn Ohrgeräusche erstmals auftreten?)
  • Hyperakusis – Geräuschüberempfindlichkeit (Phonophobie – Recruitment)
  • Morbus Menière (Drehschwindel – Hörverlust – Ohrgeräusch)
  • Schwerhörigkeit
  • Tinnitus-Retraining-Therapie (Veränderung der Hörwahrnehmung)
  • Tinnitus bei Kindern und Jugendlichen
  • Stressbewältigung
  • Schwerbehinderung (Tinnitus als Berufskrankheit, Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit)

Die DTL gibt zudem eine Mitgliedszeitschrift heraus, Betroffene können sich im Online- Forum austauschen. Im Shop können Bücher zur Selbsthilfe, Entspannungsmusik, Gehörschutz, Klinikwegweiser und weitere nützliche Dinge bezogen werden, die helfen, den Tinnitus zu tolerieren. Interessant: Man kann auf der Internetseite ein Beispiel eines Ohrgeräuschs anhören.

Dazu werden nur eine Soundkarte und ein MP3-Player benötigt – und schon hört man den typischen hohen Pfeifton. Gegründet wurde die DTL 1986 von Hans Knör und acht weiteren Patienten in Wuppertal – weil es kaum therapeutische Hilfe im Gesundheitswesen gab. Und weil Tinnitus als Leiden weitgehend ignoriert wurde.

KONTAKT
Deutsche Tinnitus-Liga e.V. (DTL)
Am Lohsiepen 18
42369 Wuppertal
Telefon: 02 02/2 46 52-0
Telefax: 02 02/2 46 52-20
E-Mail: dtl@tinnitus-liga.de
Internet: www.tinnitus-liga.de

Seitdem hat sich die Deutsche Tinnitus-Liga eindrucksvoll zu einer der größten deutschen Selbsthilfeorganisationen entwickelt, der über 1000 Fachleute als Partner und fördernde Mitglieder angehören. Circa 16 000 Mitglieder machen die DTL zum größten Tinnituszusammenschluss in der Welt und zum anerkannten Partner des Gesundheitswesens in Deutschland. Quelle: www.tinnitus-liga.de

Den Artikel finden Sie auch in Die PTA IN DER APOTHEKE 11/12 ab Seite 106.

Das Interview führte Dr. Petra Kreuter, Redaktion

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