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Kolumne | Holger Schulze

ICH HÖRE, ALSO DENKE ICH

Die Bedeutung des Hörsinns für den Menschen wird oft unterschätzt. Zudem zeigen neuere Studien, dass Schwerhörigkeit der größte einzelne Risikofaktor für Demenz darstellt.

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Kennen Sie das auch? Die Angst davor, einen unserer Sinne zu verlieren, etwa zu erblinden? Tatsächlich ist für die meisten Menschen die Vorstellung, das Augenlicht zu verlieren, deutlich belastender als die Vorstellung des Verlusts aller anderen Sinne: Als Primaten sind wir „Augentiere“ und verlassen uns sehr auf unseren Gesichtssinn, bei der Orientierung oder der Erkennung von Personen und Gegenständen. All dies zu verlieren erscheint uns schwerwiegender als etwa zu ertauben. Dabei sagen die Erfahrungen Betroffener etwas ganz anderes: Hiernach scheint es tatsächlich emotional weniger belastend zu sein, das Augenlicht zu verlieren als das Gehör.

Deutlich mehr Menschen, die erblinden, kommen früher oder später gut mit der Situation zurecht als solche, die ertauben. Die amerikanische Schriftstellerin Helen Keller (1880–1968), die im zweiten Lebensjahr ertaubte und erblindete, brachte es einmal wie folgt auf den Punkt, als sie schrieb „Blindheit trennt von den Dingen, Taubheit von den Menschen“. Für Ertaubte ist Letzteres denn auch das emotional belastendere Problem, denn im Gegensatz zum Blinden ist man im Kreise seiner Freunde oder Familie zwar noch mittendrin, aber nicht mehr dabei: Man versteht die Gespräche nicht mehr, kann nicht mehr teilhaben.

»Schwerhörigkeit vergrößert das Demenzrisiko!«

Diese soziale Isolation führt dazu, dass Ertaubung deutlich häufiger zu Depressionen bis hin zum Suizid führt als Erblindung. Wie neuere Untersuchungen gezeigt haben, hat der Hörsinn scheinbar aber noch fundamentalere Bedeutung für unsere Hirnfunktion, selbst dann, wenn er lediglich eingeschränkt ist. Wie eine Studie zu Risikofaktoren einer Demenz aufzeigte, ist Hörverlust der stärkste einzelne Risikofaktor für die Ausbildung einer Demenz: Etwa neun Prozent des Demenzrisikos – so die Studie – ließen sich auf Hördefizite zurückführen, die dabei gar nicht mal erheblich sein müssen: Der normale kognitive Leistungsabfall, der üblicherweise zwischen dem 45. und 50. Lebensjahr einsetzt, verdoppelt sich schon bei einem leichten Hörverlust von 25 bis 40 Dezibill (dB) (bezogen immer auf das bessere Ohr), wird bei moderatem Hörverlust von 40 bis 70 dB verdreifacht und bei starkem Hörverlust zwischen 70 und 95 dB sogar verfünffacht!

Insgesamt setzt sich das Demenzrisiko aus einer Reihe von Faktoren zusammen, von denen diejenigen, die beeinflussbar wären, immerhin 35 Prozent ausmachen. Neben dem Hören sind dies mangelhafte Bildung, die für 8 Prozent des Demenzrisikos verantwortlich gemacht wird, Rauchen (5%), Depression (4%), mangelnde Bewegung (3%), Bluthochdruck und soziale Isolation mit jeweils 2% sowie Fettleibigkeit und Diabetes mit jeweils 1%. Wenngleich diese Statistiken keineswegs einen Kausalzusammenhang zwischen den einzelnen Faktoren und dem Demenzrisiko belegen, sondern lediglich eine Korrelation, so kann es doch nicht schaden, gerade und besonders auf seinen Hörsinn zu achten und diesen zu schützen, insbesondere da alle Schäden, die dem Innenohr zugefügt werden, irreparabel sind – finden Sie nicht auch?

Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 03/19 auf Seite 12.

Zur Person

Prof. Dr. Schulze Hirnforscher
Holger.Schulze@uk-erlangen.de 

Prof. Dr. Schulze ist Leiter des Forschungslabors der HNO-Klinik der Universität Erlangen-Nürnberg sowie auswärtiges wissenschaftliches Mitglied des Leibniz-Instituts für Neurobiologie in Magdeburg. Seine Untersuchungen zielen auf ein Verständnis der Neurobiologie des Lernens und Hörens.
www.schulze-holger.de 

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