Vier frauen unterschiedlicher Statur halten sich in den Armen und kehren dem Betrachter den Rücken zu.© Andrea Migliarini / iStock / Getty Images Plus
Ob eine Frau übergewichtig wird, wird auch dadurch bestimmt, wie aktiv bestimmte Gene sind - und das entscheidet sich noch vor der Geburt.

Epigenetik

GEN-AKTIVITÄT FÜR ÜBERGEWICHT VERANTWORTLICH

Mehr als die Hälfte der Deutschen sind übergewichtig, Tendenz steigend. Nicht nur Ernährung und Bewegung beeinflussen unser Gewicht. Auch die Veranlagung spielt eine große Rolle.

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Unsere Veranlagung bestimmt darüber mit, ob wir übergewichtig werden oder nicht. Mehrere Genvarianten sind bereits bekannt, aber zusammengenommen keine Erklärung für die Erblichkeit von Übergewicht. Forschern zufolge müssen also zusätzliche, nichtgenetische Faktoren beteiligt sein.

Einem solchen Faktor sind neue Untersuchungen an der Berliner Charité auf die Spur gekommen. Dieser scheint vor allem Frauen zu betreffen.

Gen-Aktivität beeinflusst Übergewicht

Ein Team um den Direktor der Klinik für pädiatrische Endokrinologie in Berlin, Professor Dr. Peter Kühnen, und Erstautorin Lara Lechner hat sich das Proopiomelanocortin (POMC)-Gen näher angesehen. Waren an diesem besonders viele Methylgruppen zu finden, stieg das Risiko für Übergewicht bei Frauen um 44 Prozent.

Methylgruppen verwendet unser Körper, um bestimmte Basen in der DNA zu markieren. Das dient dazu, einzelne Gene gezielt an- oder abzuschalten. Eine solche Methylierung bezeichnet man auch als epigenetische Markierung. Das betreffende Gen bleibt unverändert, mutiert also nicht. Es wird lediglich in seiner Aktivität beeinflusst.

Bei adipösen Frauen fanden die Berliner Forscher mehr Methylgruppen am POMC-Gen als bei normalgewichtigen. Der Effekt der Methylierung ist laut Kühnen vergleichbar mit dem, der durch Mutationen bei verschiedenen Genen festgestellt wurde, die für die Gewichtsregulierung verantwortlich sind. Warum dieser Effekt nur Frauen betrifft, wissen die Forscher aber noch nicht.

Gene verändern sich noch im Mutterleib

Bereits kurz nach der Verschmelzung von Spermium und Eizelle wird das POMC-Gen methyliert. Das haben eigens entwickelte Untersuchungsmethoden der Berliner Forscher an ein- und zweieiigen Zwillingen ergeben.

Die Methylierungsmuster scheinen zufällig zu entstehen, so Professor Kühnen. Nahrungsbestandteile wie Folsäure oder Methionin dienen als Quelle für Methylgruppen. Wie viel dieser Nahrungsbestandteile zur Verfügung steht, hat jedoch keine direkten Auswirkungen auf den Grad der Methylierung. Von außen, so Professor Kühnen, sei diese bisher nicht zu beeinflussen.

Medikamentöse Abhilfe?

Das POMC-Gen ist für die Produktion verschiedener Stoffe verantwortlich, zum Beispiel für die Synthese von Melanotropin. Dieses Hormon wirkt appetitzügelnd. Bei Mutationen im POMC-Gen leiden die Betroffenen unter starkem Übergewicht, oft schon im Kindesalter. Mutationen dieses Gens, also Veränderungen der Basenfolge, sind aber relativ selten.

Möglicherweise kann Menschen, die das stark methylierte POMC-Gen in sich tragen, medikamentös beim Abnehmen geholfen werden. Fünf hochadipösen Probanden (einem Mann und vier Frauen) mit stark methyliertem POMC-Gen wurde der Wirkstoff Setmelanotid verabreicht. Hierbei handelt es sich um einen Wirkstoff, der seit 2022 für die Behandlung von Adipositas bei Personen mit mutiertem POMC-Gen zugelassen ist. Die behandelten Personen verloren in drei Monaten jeweils rund fünf Prozent ihres Körpergewichtes. Im Schnitt waren das etwa sieben Kilogramm.

Laut Professor Kühnen müssen hier noch weitere kontrollierte Studien durchgeführt werden. Zumindest zeige die Untersuchung aber, dass das methylierte POMC-Gen sich von außen durch Medikamente adressieren lasse.

Genetik nur einer von vielen Faktoren

Sozioökonomische Faktoren wie Bildungsniveau oder Einkommen erhöhen laut Professor Kühnen das Adipositasrisiko weitaus stärker als genetische oder epigenetische Veränderungen. Dennoch werden seine Untersuchungen durch den europäischen Forschungsrat gefördert. Möglicherweise kann durch weitere Forschung bald mehr Menschen mit Adipositas geholfen werden.

Sozioökonomische Faktoren wie Bildungsniveau oder Einkommen erhöhen laut Professor Kühnen das Adipositasrisiko weitaus stärker als genetische oder epigenetische Veränderungen. Dennoch werden seine Untersuchungen durch den europäischen Forschungsrat gefördert. Möglicherweise kann durch weitere Forschung bald mehr Menschen mit Adipositas geholfen werden.

Quellen:
https://idw-online.de/de/news818107
Lechner, Kühnen et al.: „Early-set POMC methylation variability is accompanied by increased risk for obesity and is addressable by MC4R agonist treatment“, Science Translational Medicine, 19. Juli 2023. https://www.science.org/doi/10.1126/scitranslmed.adg1659
https://www.gelbe-liste.de/wirkstoffe/Setmelanotid_56668
https://www.destatis.de/Europa/DE/Thema/Bevoelkerung-Arbeit-Soziales/Gesundheit/Uebergewicht.html 

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