Mann steht auf Waage© Big Cheese Photo / iStock / Getty Images

Adipositas

WARUM WERDEN WIR IMMER DICKER?

Adipositas ist definiert als eine über das Normalmaß hinausgehende Vermehrung des Körperfetts. Die schwerste Form (Grad III) bezeichnet man als Adipositas permagna. Wie kann es dazu kommen?

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Damit Adipositas konkret bestimmt werden kann, wird als Berechnungsgrundlage für die Gewichtsklassifikation der sogenannte Body Mass Index (BMI) angewendet. Der BMI ist der Quotient aus Gewicht und Körpergröße zum Quadrat (kg/m2). Adipositas ist eine chronische Erkrankung, durch die sowohl das Morbiditäts- (Zahl der Erkrankten) als auch das Mortalitätsrisiko (Zahl der Sterbefälle) steigt.

Betroffene sind in ihrer Lebensqualität eingeschränkt und bezüglich Folgeerkrankungen meist auf Langzeitbetreuung angewiesen. Laut den Erhebungen der DEGS1-Studie des Robert Koch-Instituts von 2013 sind 67 Prozent der Männer und 53 Prozent der Frauen übergewichtig. Davon sind 23 Prozent der Männer und 24 Prozent der Frauen adipös.

Seit Jahren sind Anstiege vor allem in der Adipositas-Prävalenz zu verzeichnen, während das Übergewicht auf einem gleich bleibenden hohen Niveau steht. Mit den steigenden Adipositas-Prävalenzen steigen auch die Zahlen an bariatrischen Operationen. Immer mehr adipöse Menschen entscheiden sich für eine Magenverkleinerung oder anderer magenoperative Eingriffe, um langfristig viel Körpergewicht verlieren zu können.

Kein individuelles, sondern ein gesellschaftliches Thema Viele normalgewichtige Menschen fragen sich, weshalb eine Person es so weit hat kommen lassen, dass sie stark adipös wurde und einen BMI weit über 40, 50 oder sogar 60 erreicht hat. Niemand wird adipös geboren und viele Menschen denken, dass das frühe und effektive Eingreifen mit präventiven Methoden wie Ernährungsberatung und Bewegungsprogrammen vor diesem krankhaften Gewichtsverlauf schützen sollten.

Ein weiterer wichtiger Aspekt in unserer leistungsorientierten Gesellschaft sind Schuldzuweisungen und Stigmatisierungen gegenüber adipösen Menschen. Im Folgenden möchte ich anhand verschiedener Fallbeispiele erläutern, wie Menschen Adipositas in einer sehr hohen BMI-Kategorie entwickelt haben.

Quelle: Deutsche Adipositas Gesellschaft e.V., 2022
KategorieBMI [kg/m2]Risiko für Folgeerkrankungen
Untergewicht< 18,5niedrig
Normalgewicht18,5 – 24,9durchschnittlich
Übergewicht25 – 29,9gering erhöht
Adipositas Grad I30 – 34,9erhöht
Adipositas Grad II35 – 39,9hoch
Adipositas Grad III≥ 40sehr hoch

Strenge Regeln Bei der ersten adipösen Person handelt es sich um Frau Meyer* im Alter von 35 Jahren und einem BMI von 46. Frau Meyer ist seit der Kindheit übergewichtig und es besteht eine familiäre Vorbelastung für Übergewicht. Ihre Mutter hat sich sehr gesorgt, dass ihre Tochter schon als Kind zu viel wiegt. Daher sollte sie mit starren Diäten abnehmen, um nicht gehänselt zu werden.

Für die Mutter war das äußere Erscheinungsbild äußerst relevant und so entstand bei Frau Meyer bezüglich ihres Aussehens und des Gewichts seit der Kindheit sehr viel Druck und Selbstablehnung, wenn sie nicht dem Ideal entsprach. Frau Meyer entwickelte ein sehr rigides Kontrollverhalten und Störungsmuster im Essverhalten. Ihr Körperschema ist nun als erwachsene Person verzerrt und ihr Selbstbild negativ. Mit dem Körperschema ist die Vorstellung vom eigenen Körper gemeint.

Rigides Kontrollverhalten bedeutet Verbot bestimmter Lebensmittel und strenge Regeln. Und die Störungsmuster zeigen sich durch ein Abwechseln von Diätphasen mit Phasen, in denen das Essverhalten nicht besonders gezügelt ist. Frau Meyer findet sich immer wieder in starren Diäten, durch die sie kurzfristig abnimmt und nach einer gewissen Zeit durch den bekannten Jojo-Effekt wieder mehr zunimmt als vorher. Für sie ist in der Adipositas-Behandlung entscheidend, dass sie ein therapeutisches Konzept frei von rigiden Mustern erlernt und mit ernährungspsycholgischen Schwerpunkten behandelt wird.

In einer Gesellschaft, in der über die Medien eine Vielzahl von strengen Diäten und rigiden Maßnahmen beworben wird, wird es für Personen wie Frau Meyer erschwert, das gewünschte flexible Kontrollverhalten und ein gesundes Körperschema sowie eine selbstakzeptierende Körperwahrnehmung zu entwickeln.

Ungünstige Ernährungsgewohnheiten Im nächsten Fallbeispiel geht es um einen adipösen Mann im Alter von 48 Jahren und einem BMI von 59. Herr Krause* ist ebenfalls seit der Kindheit übergewichtig und er verinnerlichte bereits im Elternhaus ungünstige Verhaltensmuster einer hochkalori- schen sowie unachtsamen Ernährungsgewohnheit. Seine Portionen sind seit der Kindheit stetig gestiegen durch Sätze wie „Der Teller muss leer“ und dem hastigen Essverhalten untereinander in der Familie.

In seinem weiteren Werdegang arbeitete er in Firmen, die sein unachtsames und hastiges Essverhalten durch Stress, mangelnde Pausen und verschiedene Arbeitsschichten förderten. Herr Krause berichtete über sehr große Portionen durch einen gesteigerten Appetit und ein Schlingen, was auch als Hyperphagie bezeichnet wird. Während einer kurzen Arbeitspause kann er in wenigen Minuten vier Brötchen mit Aufschnitt verzehren.

Über viele Jahre hat er seine Essproblematik und dass er immer mehr an Gewicht zunahm, innerlich verdrängt. Er erkannte selbst, dass er in unserer Gesellschaft als Arbeitnehmer sowie Ehemann gut funktioniert und er sich seine Schwäche mit dem Essverhalten und den damit verknüpften Emotionen nicht eingestehen konnte.

Wie kommt es zu Adipositas?
Es lassen sich immer wieder folgende Einflussfaktoren beobachten:

+ Familiäre Disposition, genetische Ursachen
+ Lebensstil (Bewegungsmangel, Fehlernährung)
+ Unachtsames Essverhalten, unstrukturierte Mahlzeitenplanung
+ Fehlende Körperwahrnehmung
+ Ständige Verfügbarkeit von hochkalorischer und chemisch zugesetzter Nahrung
+ Schlafmangel, Stress
+ Verminderter Selbstwert und mangelnde Selbstfürsorge
+ Depressive Erkrankungen
+ Restriktive Diätmaßnahmen und folglich die Entwicklung eines rigiden Essverhaltens
+ Emotionales Essverhalten
+ Essstörungen (Binge-Eating-Disorder, Night-Eating-Disorder)
 + Endokrine Erkrankungen (Hypothyreose, Cushing-Syndrom)
+ Verändertes Darmmikrobiom
+ Medikamente (Antidepressiva, Neuroleptika, Phasenprophylaktika, Glucocorticoide)

Adipositas-Behandlung ist komplex Beide Fallbeispiele zeigen, dass Stigmatisierungen mit Schuldzuweisungen oder Zuschreibungen von Inkompetenzen nicht hilfreich sind. Eine reine Wissensvermittlung über Ernährung und Bewegung ist in der Regel nicht zielführend, wird aber immer noch zu oft als Behandlungskonzept angeboten.

Es ist relevant zu verstehen, wie das Essverhalten von Adipositas-Patienten funktioniert, welche individuellen Einflussfaktoren das hohe Gewicht und das Ernährungsverhaltensmuster begünstigen und welche Rolle unsere Wohlstandsgesellschaft hat. In der nächsten Folge geht es um den durch das Essverhalten veränderten Stoffwechsel.

Den Artikel finden Sie auch in DIE PTA IN DER APOTHEKE 06/2022 ab Seite 30.

*Name geändert
Sabrina Thaden, Ernährungstherapeutin, www.nutrition-master.de

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