Skulptur mit VR-Brille© 3DSculptor / iStock / Getty Images

Bücher, von denen man spricht

DIE KLEINSTE GEMEINSAME WIRKLICHKEIT

Mai Thi Ngyuen-Kim, jene pfiffige junge Wissenschaftlerin mit der großen Sprachbegabung, hat sich dem Thema der verlockenden Suche nach einfachen Antworten angenommen. Was ist wahr, was ist falsch, was ist plausibel?

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Wahrscheinlich haben alle seriösen Wissenschaftler schon längst die Nase voll. Wenn sich bei Markus Lanz spät am Abend ein Virologe und ein erklärter Gegner desselben ihre Thesen um die Ohren hauen, weiß noch nicht mal der Zuschauer, was er von dem ganzen halten soll. Da geht es um Korrelationen, um Kausalität, um Koeffizienten, um p- und um R-Werte. Und wie war nochmal die Frage?

Und was kam heraus? Das Bundesverdienstkreuz Mai Thi Nguyen-Kim bringt nun endlich Licht ins Dunkel der Wissenschaft – indem sie erklärt, was gute Science ausmacht. Wie man eine Studie versteht und wie nicht. Was die Evidenz ist. Und warum sich Christian Drosten eigentlich mit der Bild-Zeitung gestritten hat (da ging es nämlich um so etwas). Sie bedient sich dazu Fragen, die als Vehikel dienen: Hilft Schulmedizin besser als alternative Methoden? Warum denken und verdienen Männer und Frauen unterschiedlich? Wie politisch darf Wissenschaft sein? Sind Tierversuche vertretbar und Impfungen sicher?

Da gesunde Skepsis und Verschwörungsmythen oft ineinander übergehen, hat sie sogar das Angebot eines großen deutschen Chemie-Unternehmens als Laborleiterin ausgeschlagen, „weil mir Kopf und Bauch in ungewohnt klarer Allianz sagten, dass ich eine Karriere in der Wissenschaftskommunikation versuchen musste. Die zunehmend verschwimmende Grenze zwischen Fakten und Meinungen, die Informations- und Desinformationsüberflutung in sozialen Medien und die scheinbar unerschütterliche Realitätsfeindlichkeit mancher Menschen, die die Erde für flach oder Viren für nicht existent erklärten, waren für mich tatenlos kaum auszuhalten.“

Und das kam dabei heraus: der Youtube-Kanal maiLab (ausgezeichnet mit dem Grimme Award), die Wissenssendung Quarks, der Bestseller „Komisch, alles chemisch“ (hier schon besprochen) und schließlich sogar das Bundesverdienstkreuz (2020). Nun hat sie also schön methodisch und schön nacheinander „brennende Themen unserer Gegenwart“ (so formuliert es der Verlag) beleuchtet. Sie hat auf Grundlage neuester wissenschaftlicher Grundlagen – wirklich – gezeigt, was wahr und was falsch ist und was plausibel. Was stimmt eigentlich und worüber wollen wir uns in Wahrheit streiten? So prüft sie diskussionswürdige Fragen auf Herz und Nieren, mit Daten unterfüttert, dabei aber leicht zu lesen und frei von Bullshit. Ihre Devise dabei ist: Nicht weniger streiten, nur besser. Und dazu braucht es ihrer Ansicht nach „die kleinste gemeinsame Wirklichkeit“, sozusagen eine Schnittmenge der überprüfbaren Wahrheiten.

Keine Macht den Pauschalierungen Gute Idee! Nebenbei zu lesen ist dieses Buch zwar nicht, aber das denkt ja hoffentlich auch keiner: Man sollte sich schon ein bissel konzentrieren können. Mai Thi beleuchtet die These, ob Drogen legalisiert werden sollten (“Keine Macht den Pauschalierungen“), fragt, ob denn Videospiele wirklich Gewalt auslösendes Verhalten fördern, erklärt den Gender Gap, also die Unterschiede zwischen Männern und Frauen und deren Gehirnen. Sind Intelligenztests wirklich so aussagekräftig und wenn nein, warum macht man dann so viele? Ob Tierversuche ethisch vertretbar sind und wie es kommt, dass kleine Kügelchen aus Zucker nicht unbedingt einen Nachweis für einen plausiblen Wirkmechanismus brauchen, sich aber trotzdem Arzneimittel nennen dürfen („Das Arzneimittelgesetz könnte mal wieder eine Reform vertragen“).

Die Sache mit der Herdenimmunität Das Kapitel über die Sicherheit von Impfungen ist kurz, aber sehr fein, sehr direkt und sehr wahr. „Ohne Impfungen wäre unser Leben richtig beschissen. Jedes Jahr wäre mehr oder weniger wie 2020, nur dass wir uns weniger Sorgen um Achtzigjährige machen müssten, weil wir gar nicht so alt werden würden.“ Und sie erklärt das klassische Präventionsparadox: Es gibt etwas Schreckliches, das Schreckliche wird erfolgreich verhindert, und der Schrecken bleibt aus. Wir stellen fest: War ja gar nicht so schrecklich.

Um gegen diese Wahrnehmungsstörung anzukämpfen, zählt Mai Thi ein paar mittlerweile teilweise ausgerottete Krankheiten auf: „Die Pocken, die etwa ein Drittel der Infizierten töteten, befielen 1966 noch 10 bis 15 Millionen weltweit. Regelmäßige Masernepidemien forderten, ebenfalls weltweit, zwei bis drei Millionen Tote pro Jahr. Und vor noch nicht allzu langer Zeit erkrankten allein in Deutschland jährlich Tausende Kinder an Polio, der Kinderlähmung. 1952 waren es rund 10 000 Kinder.“ Dies zum Thema nicht mehr wahrgenommener Schrecken. Die Autorin bittet, es auch auf die Corona-Pandemie anzuwenden, deren Impfkampagne zur Drucklegung des Buches gerade anlief.

Sie nimmt dabei auch auf ein anderes Thema Bezug, nämlich das der journalistischen Aufbereitung, wodurch eigentlich zahlenmäßig weit unterrepräsentierte Gruppen mehr Aufmerksamkeit bekommen, als sie verdienen, denn „die lautesten Stimmen im Netz sind auch hier wie so oft nicht repräsentativ. Wenn man sich als Journalistin zu sehr auf das Debunken extremer Ideen konzentriert, die letztlich nur von einer unbedeutend kleinen Zahl an Menschen ernsthaft geglaubt werden, vernachlässigt man eine viel größere Gruppe: Die Menschen, die berechtigt oder unberechtigt ernsthaft Bedenken oder Zweifel haben oder sich einfach ausführlichere Informationen wünschen.“ Als tröstlich empfand ich diesen Satz: „Lasst die Impfgegner in Ruhe! Lasst sie einfach. Denn selbst eine Herdenimmunität von 95 Prozent, die man bräuchte um die Masern langfristig auszurotten, würde man auch ohne Impfgegner schaffen.“ Bleibt nur zu hoffen, dass sich dies auch auf SARS-CoV-2 anwenden lässt.

Man irrt sich vorwärts Wissenschaftliches Denken bedeute für sie eine Freude an Komplexität und eine Skepsis gegenüber zu einfachen Antworten, sowie eine Freude an Differenzierungen, Nuancen, Details und Grautönen. „Zur Wissenschaft gehört auch, dass nicht jede Studie gleich Studie, nicht jeder Beleg gleich Beleg ist: Wissenschaftliche Ergebnisse sagen wenig aus, solange ihr nicht die Methoden kennt, mit denen diese Ergebnisse erstellt wurden.“ Noch dazu herrsche in der Wissenschaft eine gewisse Fehlerkultur, ja, sie lebe davon, dass Fehler verbessert würden: „Jeder Irrtum ist eine Erkenntnis, die einen weiterbringt. Man irrt sich vorwärts.“ Wenn das mal keine Prämisse für ein gelingendes Leben ist!

Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 09/2021 ab Seite 124.

Alexandra Regner, PTA und Medizinjournalistin

Mai Thi Nguyen-Kim Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit
Wahr, falsch, plausibel – die größten Streitfragen wissenschaftlich geprüft Droemer Hardcover, 368 Seiten, 20 Euro ISBN: 978-3-426-27822-2

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