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Nicht jeder mit Hörschaden bekommt Tinnitus.

DER KLEINE MANN IM OHR

Eines der großen Rätsel ist die Frage, warum nur manche Patienten ein Ohrgeräusch entwickeln. Jüngste Erkenntnisse bringen uns dieser Frage ein Stück näher.

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Pfeifen, Klingeln oder Rauschen im Ohr, das einen nie wirklich zur Ruhe kommen läßt? Wenn ja, leiden Sie wie rund drei Millionen Deutsche vermutlich unter einem chronischen Tinnitus. Aber trotz dieser enormen Zahl Betroffener und seit Jahren weltweit zunehmender Forschungsaktivitäten ist es bislang noch nicht gelungen, eine wirksame Therapie zur Heilung der Erkrankung zu entwickeln.

Dies liegt im Wesentlichen daran, dass das Phänomen Tinnitus nach wie vor in seinen neurologischen Grundlagen nur unzureichend verstanden ist. Zwar ist mittlerweile unumstritten, dass chronischer Tinnitus auf plastischen Veränderungen im Gehirn beruht, die sich in Folge einer Schädigung des Innenohres ergeben , doch die berichteten Ohrgeräusche sind so vielfältig, dass die gängigen Modelle sie nur teilweise zu erklären vermögen.

Auf der Suche nach den neurobiologischen Mechanismen, die beim Übergang von akutem zu chronischem Tinnitus eine Rolle spielen, sind wir nun in unserem Labor an der HNO-Klinik in Erlangen einen wichtigen Schritt voran gekommen: Wir untersuchten Wüstenrennmäuse mit identischem Hörschaden auf das mögliche Vorhandensein eines Tinnitus.

Da man die Tiere nicht fragen kann, ob sie ein Ohrgeräusch wahrnehmen, bedient man sich eines Tricks: Man testet im Verhalten, wie gut die Tiere eine Lücke, also eine kurze Zeit der Stille, in einem Rauschen wahrnehmen können. Tiere, die einen Tinnitus haben, hören in der Lücke ihr eigenes Ohrgeräusch und nehmen die Lücke daher schlechter wahr als Tiere ohne Tinnitus. Interessanterweise stellten wir nun fest, dass, ähnlich wie Menschen, nur etwa 75 Prozent der Tiere, die einen Hörschaden hatten, auch ein Tinnitusperzept entwickelten.

Daraufhin untersuchten wir die plastischen Veränderungen in den Gehirnen der beiden Gruppen. Es zeigte sich, dass sich die Tiere bereits VOR der Entstehung des Hörschadens voneinander unterschieden: Tiere, die später keinen Tinnitus entwickelten, zeigten deutlich höhere Aktivitäten in der Hörrinde als solche, die später Tinnitus bekamen. Es gibt also eine Prädisposition für Tinnitus!

Des Weiteren reduzierte sich die Aktivität nach Hörschaden in den Tieren ohne Tinnitus, während die Tinnitustiere höhere neuronale Aktivitäten entwickelten, die möglicherweise den Tinnitus widerspiegeln. Scheinbar gelingt es Tieren mit hoher neuronaler Aktivität diese aktiv, möglicherweise durch einen globalen inhibitorischen Mechanismus, zu reduzieren und damit der Entstehung von Tinnitus entgegenzuwirken, während Tiere mit initial niedriger Hirnaktivität dazu nicht in der Lage sind und Tinnitus bekommen.

Auf diesen hypothetischen inhibitorischen Mechanismus konzentrieren sich nun unsere Forschungen, denn wenn wir verstehen, wie manche Individuen es schaffen, Tinnitus zu vermeiden, können wir vielleicht auch denen helfen, die dies nicht vermögen – so kennen Sie das vielleicht auch …

ZUR PERSON

Prof. Dr. Holger Schulze
Hirnforscher
Holger.Schulze@uk-erlangen.de

Prof. Dr. Schulze ist Leiter des Forschungslabors der HNO-Klinik der Universität Erlangen-Nürnberg
sowie auswärtiges wissenschaftliches Mitglied des Leibniz-Instituts für Neurobiologie in Magdeburg.
Seine Untersuchungen zielen auf ein Verständnis der Neurobiologie des Lernens und Hörens.
www.schulze-holger.de

Den Artikel finden Sie auch in Die PTA IN DER APOTHEKE 11/12 auf Seite 12.

 


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