© Frater Aloisius
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Der Apothekenkrimi

DER HEILIGE VITUS – TEIL 4

WAS BISHER GESCHAH: Der neue Pharmaziepraktikant in Britta Badouins Apotheke hat ein Händchen für ungewöhnliche Situationen im Verkaufsraum: Gerade begleitete er die alte Frau Meitner nach Hause, die sichtlich verwirrt im Nachthemd mit einem abgelaufenen Rezept erschienen war. Derweil spitzt sich bei den de Schreurs, einem ungleichen Ehepaar mit Problempotenzial, die Lage zu. Und auch Rieke, die PKA, merkt nicht, in welche Gesellschaft sie sich begeben hat …

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Rieke war ein wenig eifersüchtig. Diese blonde Frau stand jetzt schon so lange bei Yannick. Bei der lauten Musik im Club war ja sowieso nichts zu verstehen, aber sie schienen Wichtiges miteinander zu besprechen. Jedenfalls hatten sie die Köpfe nah beieinander. Die Bässe wummerten, und das Stroboskop-Licht zuckte über die Tanzenden. Jetzt bewegte sich etwas auf der DJ-Bühne; Yannick stieg die Treppen hinunter. Und die Blonde folgte ihm. Rieke machte einen Schritt vorwärts. „Hi.“ Yannick fasste sie kurz unters Kinn und küsste sie flüchtig auf die Wange. „Bin gleich wieder da.“ Und dann ging er einfach weiter.

Die blonde Frau streifte Rieke kurz mit Blicken, dann glitt sie durch die Menschenmenge und wurde von ihr verschluckt. Das war doch diese … de Schreurs. Die mit dem dicken Mann. Rieke musste an ihren Ex-Freund denken, jenen, der nach Berlin verschwunden war, um dort eine Weiterbildung anzufangen. Er hatte sie vor kurzem angerufen und ihr erzählt, dass die Welt doch sehr klein war. Der Freund arbeitete just in der Fabrik, deren neues Firmenzentrum sich jetzt unweit von der Apotheke befand: „Schreurs Schrauben“ spendierte seiner künftigen Führungsetage nämlich einen längeren Aufenthalt in der Hauptstadt. „Mann, da wird ja allerhand geredet über Chef und Chefin“, hatte er gesagt.

„Was denn?“ „Er betrügt sie, was das Zeug hält, und sie vertickt kleine weiße Pillen.“ „Was? Das muss ein Irrtum sein. Er ist nicht besonders gesund. Und sie … kommt sie denn nach Berlin?“ „Man munkelt … mit `nem Linienflug morgens hin und abends wieder zurück. Damit der Gatte nix merkt. Und ab und zu besucht sie auch mal ihre Schwester, die ja immer noch in Marzahn wohnt. Dann bleibt sie über Nacht, aber nicht im Plattenbau …“ „Wo denn sonst?“ fragte Rieke begriffsstutzig. „Ach, mein Liebes …“ lachte ihr Ex ins Telefon und Rieke vergaß, was sie eigentlich wissen wollte, weil es sie a) sowieso wunderte, dass er angerufen hatte und sie sich b) fragte, was er überhaupt von ihr wollte und c) weil er „Liebes“ gesagt hatte.

Ein gut gebauter Mann undefinierbaren Alters lächelte ihr zu. Er tanzte und wurde von der Menge mal hierhin und mal dorthin getragen. Er hatte eine blonde Fönfrisur, die längst aus der Mode gekommen war, ihm aber merkwürdigerweise gut stand. Rieke guckte genauer hin. Das war doch … dieser Michael Vitus aus der Apotheke!

Wie aus dem Boden gewachsen stand Yannick plötzlich neben ihr. „Mensch, bin ich froh, dass ich die los bin“, flüsterte er ihr ins Ohr. „Die hat so was Männermordendes.“ „Was wollte sie denn von dir?“ fragte Rieke. „Ich glaub᾿, das wusste die selber nicht so genau“, lachte er. Dafür hatte sie aber ganz schön lange mit ihm gelabert, fand Rieke „Hast du wieder was für mich?“ fragte Yannick und guckte sie verliebt an. „Ach so, ja.“ Rieke wurde immer ein wenig schummrig, wenn er sie so anschaute. „Ich hol die Sachen rein, sie sind im Auto.“ Yannick meinte die abgelaufenen Medikamente, er sagte immer, er könne alles brauchen, er würde auch Leute kennen, die sich die Rezeptgebühren nicht mehr leisten konnten. Rieke glaubte ihm. Diesmal hatte sie sogar eine Fünferpackung Insulin-Fläschchen dabei, die aufgrund eines falsch ausgeschriebenen Rezeptes zurückgegeben worden waren. Und jede Menge abgelaufenes Paracetamol. Hustenstiller. Hämorrhoiden-Salbe.

„Hier“, sagte Yannick und reichte ihr eine Aktentasche. „Stell die einfach in meinen Spind hinter der Garderobe. Du bist die Beste.“ Rieke nickte folgsam. Und fingerte nach dem Bund, an dem sowohl ihr Autoschlüssel als auch der Spindschlüssel ihres Freundes waren. Als die PKA den Club wieder betrat, fiel ihr eine ältere Frau auf, die in einem wallenden Gewand etwas abseits stand und ein wenig verloren über die Tanzenden schaute. Ähm … Frau Meitner? Im Nachthemd? Rieke vergaß die Aktentasche, die sie immer noch in der Hand hielt, und versuchte, quer durch die Menschenmenge zu gelangen. Wobei sie unabsichtlich den Mann mit der Fönfrisur anrempelte. „Was ist los?“ fragte Michael Vitus. „Ach, entschuldige …“ sagte Rieke. „Macht nichts.“

„Dahinten steht … schau mal … die alte Frau Meitner. Sie weiß bestimmt nicht, wo sie ist.“ „Ich kümmer‘ mich darum“, antwortete Vitus, guckte aber ganz woanders hin. Die Aktentasche wurde plötzlich schwer und heiß in Riekes Händen. Ach so, die sollte ja noch in den Spind. Vitus schaute ihr in die Augen. Aber er konnte ja nicht wissen, was drin war. „Vorsicht“, sagte er. Und dann war er verschwunden. Als Rieke wieder der Stage zustrebte, wo Yannick stand, deutete er belustigt mit dem Finger auf ein Pärchen, um das sich auf der Tanzfläche ein paar Leute geschart hatten und sie begeistert anfeuerten. Michael Vitus versuchte sich mit der alten Frau Meitner – die vor Vergnügen lauthals kicherte – an einem Quickstep. Ging natürlich bei ihr nicht mehr so toll, aber das Nachthemd bauschte sich immerhin um ihre Knöchel und gab ihr eine gewisse Grandezza. Und dabei war es eigentlich ganz unerheblich, dass sie immer noch die Hausschuhe an den Füßen trug.

Als Jaqueline de Schreurs nach Hause kam, schnarchte ihr Mann Hubert bereits auf der Couch. Sie schlich barfuß an ihn heran. Betrachtete den geöffneten Mund, das Doppelkinn. Den schwabbeligen Bauch. Und dachte an den Inhalt des Badezimmerschrankes. Haloperidol hatte ihr der alte Arzt verordnet, dem sie von ihren Schlafproblemen erzählt hatte. Sie würde heute Nacht direkt mal eine nehmen. Bei dem Geschnarche konnte ja sonst kein Mensch schlafen. Sei seufzte und wünscht sich ein eigenes Schlafzimmer.

Britta Badouin kämpfte sich durch den neuen Rahmenvertrag und klickte dann weiter zu „apotheke adhoc“. Aha, da stand etwas über die geplante neue Ausbildungsordnung für PTA. Was sie da las, stimmte sie zunächst fröhlich. Endlich, endlich wurde hier mal entrümpelt. Sie hatte immer noch die Lachsalven der letzten Praktikantin im Ohr, als die ihr erzählt hatte, dass man im Schullabor immer noch den Umgang mit der Handwaage lernte. Britta konnte sich nicht vorstellen, dass dies laut Apothekenbetriebsordnung im täglichen Betrieb überhaupt erlaubt war. Die Praktikantin erzählte weiter, dass man mit der Lauer-Taxe das Taxieren lernte – und zwar in der als Mappe zum Nachschlagen, Computer gab es nur zwei Stück und die waren nicht auf dem neusten Stand. Der Galenik-Lehrer ließ seine Schüler gern Rezepte aus einem älteren Arzneibuch anmischen, die Praktikantin erinnerte sich da ein „Blumen-Frischhaltepulver.“

Allerdings war das auch schon wieder ein paar Jahre her. Bestimmt sind die Schulen inzwischen auch ohne Gesetzesnovelle auf einem aktuelleren Stand, hoffte Britta. Schließlich arbeiteten viele PTA-Lehrer ja auch in der Apotheke und kannten die Anforderungen. Manches war vielleicht auch einfach der schlechten finanziellen Ausstattung der Schulen in einigen Bundesländern geschuldet. Britta las, dass man die Chemie-Stunden mehr als halbieren und die Botanik-Stunden um Phytopharmaka erweitern wollte. Und Physik wurde nun ganz abgeschafft. Sie las außerdem etwas darüber, dass man PTA-Schüler besser auf die Abgabe und den Verkauf vorbereiten wollte, zum Beispiel, indem man dazu ein eigenes Fach einführte. Das klingt gut, dachte sie, bisher blieb das doch alles an uns Apothekern hängen.

Das alte Fach Gesetzeskunde wurde erweitert um Grundlagen des Gesundheitswesens und Rolle der Apotheken, Berufskunde und Fachterminologie. Arzneimittelkunde, immerhin eine der Königsdisziplinen, wurde um Information und Beratung aufgestockt, ebenso wie die Medizinproduktekunde. Apothekenpraxis erhielt Qualitätsmanagement und EDV dazu. Hmmm, dachte sie. Vieles davon ist wahrscheinlich schon längst gängige Praxis. Schade, dass die Ausbildung nicht auf insgesamt drei Jahre erweitert werden soll. Es ist doch so viel an neuen Erkenntnissen und neuen Arzneimitteln dazugekommen. Also doch nicht der große Wurf!

Ob das den Beruf attraktiver macht und gegen den PTA-Mangel hilft? Sie ließ ihren Blick über das Regal vor dem Schreibtisch gleiten. Ganz oben hatte Annette die alten Laborgefäße abgestellt. Britta kannte Apotheken, die verkauften diese mittlerweile an Kunden: Wer eine braune Glasflasche mit „Ethanol 90 %“ haben wollte, konnte eine kriegen. Ob die Leute noch wussten, was „Adeps suillus“ hieß? Oder „Taraxacum officinale“? Apropos Pflanzendrogen. Ihr war da letztens etwas aufgefallen. Wenn sie sich nur erinnern könnte, was es war …

„Warst du in einem früheren Leben mal Eintänzer?“ Rieke griente immer noch, als sie an den vergangenen Abend dachte. Michael Vitus, der mit Frau Meitner das Tanzbein geschwungen, dann mit einem Glas Mineralwasser – das aufs Haus ging – angestoßen hatte – und sie danach sicher nach Hause begleitete. Yannick, der überhaupt nicht mehr aufhören konnte, sich darüber zu amüsieren, wobei Rieke schon auffiel, dass seine Sprüche ein bisschen fies klangen. Die vom Club sollten doch froh sein, dass jemand sich um die Frau gekümmert hatte. „Hm“, machte Michael Vitus. „Kann mich gar nicht erinnern.“ „Was war denn los?“ fragte Britta, die gerade aus dem Büro gekommen war und stirnrunzelnd das Regal mit den großen roten Tüten, die Teedrogen enthielten, anstarrte. „Michael hat jemandem aus der Patsche geholfen“, erzählte Rieke begeistert.

Als sie zu Ende war, fragte Britta entgeistert: „Schon wieder?“ „Tja“, machte Michael und klang ein wenig unglücklich, denn wer wusste schon, was diese Ereignisse alles nach sich ziehen würden. Britta guckte Michael an. Der guckte zurück. Britta sagte: „Langsam werden Sie mir unheimlich.“ Der Pharmaziepraktikant lächelte besänftigend. „Hoffentlich nicht.“ Rieke fragte: „Suchst du was?“ Und Britta erwiderte: „Ja. Aber ich weiß nicht so richtig, was …“ Sie holte die Tüte mit den Hopfenzapfen heraus, öffnete sie und schnupperte daran. Dann stellte sie sie nachdenklich wieder zurück. „Irgendwo habe ich das kürzlich gerochen. Und zwar da, wo es nicht sein sollte.“ Michael Vitus stand kerzengerade neben dem großen Kühlschrank und betrachtete sie gespannt. Rieke hingegen widmete sich mit Hingabe ihrem Wareneingangsprogramm.

Wenn Britta später an die Ereignisse zurückdachte, kam ihr alles vor wie ein Traum. Ein schlechter Traum, ein Alptraum, der dennoch ein gutes Ende gefunden hatte. Zwei Wochen später stand Michael Vitus in der Bürotür. Die Apotheke war bereits geschlossen. „Wir müssen los“, sagte er. Britta riss sich erstaunt von ihrem elektronischen Kassenbuch los. „Wohin?“ fragte sie. „Bitte, schnell.“ Und so saß die Apothekerin ehe sie sich’s versah im Auto neben ihrem Pharmazie-Praktikanten, der keine Notiz von ihr zu nehmen schien und mit ziemlich hoher Geschwindigkeit ins Villenviertel fuhr – dorthin, wo die Reichen wohnten. Britta sah sich neben ihm den Gartenweg zur Schreurs-Villa entlanggehen und sich plötzlich im Flur stehen.

Im Wohnzimmer erkannte sie Hubert de Schreurs. Er lag halb auf der Couch, aus seinem Mund lief Speichel und er schnarchte. „Was tun Sie hier?“ fragte Jaqueline de Schreurs mit weit aufgerissenen Augen. Michael schaute auf den Couchtisch. Eine Flasche Wodka, ein halb ausgetrunkenes Glas. Seit wann hat Wodka eine so milchige Konsistenz? fragte sich Britta. „Wir vermissen eine Packung Insulin als Durchstechflaschen“, sagte Michael. „Sie wurde wohl falsch ausgeliefert. Entschuldigen Sie bitte.“ Jaqueline machte eine abwehrende Handbewegung – und Michael einen Schritt auf sie zu. Jaqueline öffnete den Mund, doch Michael kam ihr zuvor. „Geben. Sie. sie. uns.“ Britta, die keine Ahnung hatte, was hier los war, hatte das unbestimmte Gefühl, dass Gefahr drohte. „Was hat Ihr Mann?“ fragte sie und zeigte auf den niedergemähten Hubert, dessen Schnarchen sich eher wie ein Röcheln anhörte. „Ziemlich viel Haloperidol im Blut.“ Michael zeigte auf das Glas, auf den Wodka und schließlich auf Jaqueline.

Die erhob sich mit trotziger Kleinmädchenmiene und stakste hinaus. Kam wieder und drückte Michael eine Fünferpackung Fläschchen in die Hand, noch eingeschweißt. „Woher wussten Sie das?“ fragte sie. Michael antwortete nicht, guckte aber ziemlich streng und wandte sich schließlich um. „Gehen wir“, sagte er zu Britta. Und Britta folgte ihm wie ferngesteuert.

Am nächsten Morgen erwachte sie mit einem bitteren Geschmack im Mund. Ihr Ehemann Robert von der Leyden lag halb auf der Seite, auf einen Ellbogen gestützt, und schaute sie aufmerksam an. „Sag mal, was hast du geträumt?“ „Oh Gott“, machte Britta. „Ganz furchtbare, verstörende Sachen. Ich war mit Michael Vitus bei den de Schreurs und wie haben verhindert, dass die junge blonde Frau ihren Mann ins Jenseits spritzte …“ „Was?“ fragte Robert. „Wann? Wie? Und wo war das?“ „Gestern Abend. Da bin ich doch nochmal losgefahren. Ich machte gerade die Buchhaltung und dann kam Vitus ins Büro marschiert …“ Roberts Gesichtsausdruck wechselte ins Peinlich-Berührtsein. „Liebling“, sagte er. „Du hast zwar gestern im Auto gesessen, aber mit mir. Wir haben stundenlang einen Parkplatz gesucht, damit wir in die Stadthalle konnten. Dort fand doch die Podiumsdiskussion statt. Zum Ärztemangel auf dem Land.“ Britta dämmerte es.

„Mit dem Minister?“ „Ja, genau.“ „Und er hatte einen roten Schlips an?“ Robert lächelte. „Du hast noch Witze gemacht. Der sei angezogen wie Donald Trump, hast du gesagt.“ „Oh Gott“, sagte Britta und ließ sich ins Kissen zurückfallen. „Ist das wirklich wahr?“ Robert betrachtete sie mitfühlend. „Du bist vielleicht ein bisschen überarbeitet. Ich hol dir jetzt einen Kaffee.“ Schließlich lehnten sich beide gegen das Kopfstück des Bettes und tranken langsam das schwarze Gebräu. Britta schnupperte an ihrer Tasse. „Warum riecht das so komisch?“ fragte sie ihren Mann.

„Hast du da irgendwas reingetan?“ „Bitte? Das ist der, den wir immer trinken. Der Grüne aus dem Supermarkt, du willst doch keinen anderen.“ „Merkwürdig. Ich könnte schwören, der ist mit Hopfenblüten in Berührung gekommen.“ Robert grinste. „Tjaja, die Familie der Hanfgewächse hat schon so manche Halluzination verursacht.“ Als keine Reaktion seiner Angetrauten erfolgte, betrachtete er sie genauer. „Was ist los, Schatz?“ Doch Britta starrte mit weit geöffneten Augen vor sich hin. „Das kann doch nicht sein …“ murmelte sie. „Nicht in meiner Apotheke …“

Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 10/19 ab Seite 132.

Alexandra Regner

Hier geht es zu Teil 1, Teil 2, Teil 3 der Serie.

Wie es weitergeht, erfahren Sie in der November-Ausgabe von „DIE PTA IN DER APOTHEKE“ im letzten Teil unseres Apothekenkrimis „Der heilige Vitus“.

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