Portrait Kaiser Wilhelm © „Kaiser Wilhelm II of Germany - 1902“ von Voigt T. H. - Photo HU 68367 from the IWA London. Lizenziert unter Gemeinfrei über Wikimedia Commons
© „Kaiser Wilhelm II of Germany - 1902“ von Voigt T. H. - Photo HU 68367 from the IWA London. Lizenziert unter Gemeinfrei über Wikimedia Commons

Krankheiten berühmter Persönlichkeiten

WILHELM, STRECK DICH!

Ärztliche Kunst oder ärztliches Unvermögen? Des letzten deutschen Kaisers schwere Geburt und deren Folgen hatten womöglich letztlich auch für das deutsche Land schwere Folgen.

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Es geschah am 27. Januar 1859: Die 18-jährige Kronprinzessin Victoria, aus englischem Königshaus, genaugenommen Tochter der legendären Queen Victoria , erwartete ihr erstes Kind von Prinz Friedrich Wilhelm von Preußen, dem späteren 99-Tage-Kaiser Friedrich III. (1831 bis 1888). Die Gebärende litt stundenlang unter schwersten Schmerzen, die Geburt stockte, die Leibärzte hatten die Steißlage des Kindes übersehen.

Eine traumatische Geburt Heute weiß man: Ein Kaiserschnitt hätte Mutter und Kind viele Qualen erspart. Doch im Jahr 1859 ist dieser entgegen des gleichlautenden Namens für die kaiserliche Familie noch keine Wahl, denn Antibiotika, Hygienemaßnahmen, Bluttransfusionen und moderne Narkose- sowie Operationstechniken müssen erst noch erfunden werden. So erhält die Kronprinzessin Ipecacuanha, eigentlich ein Brechmittel, um die unproduktiven Wehenkrämpfe zu lindern, anschließend, um die Wehentätigkeit wieder anzukurbeln, Mutterkornalkaloide.

Ferner wird Victoria mit Chloroform narkotisiert mit der Gefahr eines dramatischen Blutdruckabfalls und sehr schlechter Sauerstoffversorgung des Kindes. Als dieses um viertel vor drei am Nachmittag mit dem Po voraus in den Geburtskanal eintritt, hängt das Leben des kleinen Prinzen am seidenen Faden, weshalb er so schnell wie möglich unter Drehungen und Windungen aus dem Geburtskanal gezerrt und dabei wohl auch am linken Arm schwer verletzt wurde.

VORSCHAU
In unserer Serie „Krankheiten berühmter Persönlichkeiten“ stellen wir Ihnen demnächst folgende Menschen vor:
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Nur durch das beherzte Eingreifen einer Hebamme mittels heftigen Schlägen, Reiben und kalten Wassergüssen wurde das Neugeborene zudem zum Schreien animiert. Es muss davon ausgegangen werden, dass der kleine Wilhelm während und unmittelbar nach seiner Geburt unter Drogen stand und an Sauerstoffmangel litt. Erst einige Tage später wurde bemerkt, dass der linke Arm des Jungen schlaff herunterhing und gelähmt ist.

Vermutlich haben die Manipulationen unter der Geburt zu einer Erb-Duchenne-Lähmung geführt, einer unwiderruflichen Schädigung des Armnervengeflechts in der Achselhöhle. Hinzu kommt: Als Wilhelm vier Jahre alt ist, fällt ein zunehmend ausgeprägter muskulärer Schiefhals nach rechts auf, dessen Ursache unklar bleibt.

Peinigende Heilversuche Kühle Umschläge, Spülungen des kranken Armes mit Salzwasser, allerlei „physiotherapeutische Maßnahmen“ wie Bewegung der Gelenke nach einem bestimmten Schema, das Anlegen einer fixierenden Binde am gesunden rechten Arm, um ihn zum Gebrauch des linken Armes zu bewegen, muss er schon als Kleinkind über sich ergehen lassen. So wurde Wilhelms schwacher Arm unter anderem auch in einen frisch geschlachteten Hasen gesteckt („animalische Bäder“), um mit dessen Wärme die gelähmten Muskeln zu mobilisieren.

Zehn Jahre lang wurde der kleine Prinz einer Elektrisierungsbehandlung unterzogen und mit Wechsel- oder Gleichstrom behandelt. Täglich wurde der Hals eine Stunde lang in eine Kopfstreckmaschine eingespannt, während gleichzeitig die Halsmuskeln galvanisiert, also unter Gleichstrom gesetzt wurden. Metallgerüste wurden ihm umgeschnallt, um die Haltung zu verbessern. Mit sechs Jahren erfolgte schließlich die Abtrennung des großen Kopfwendermuskels von seinem Ursprung am rechten Schlüsselbein, damit der Prinz den Kopf aufrecht halten konnte. Leider blieben die linksseitigen Gesichtszüge und Augen im Vergleich zur rechten Gesichtshälfte danach trotzdem unterentwickelt.

Nichts blieb unversucht, die Behinderung zu beheben. Faktisch stellten die meisten der zweifellos gut gemeinten Versuche der Ärzte, Wilhelms Geburtsverletzungen wieder in Ordnung zu bringen, nur eine massive Misshandlung des kleinen Jungen dar.

Vom ungeliebten Kind zum selbstherrlichen Herrscher Hinzu kam: Auch die emotionale Kälte seiner Mutter Victoria, die sich nur schwer mit der Behinderung ihres Sohnes abfinden konnte, ließen den kleinen Wilhelm leiden. Zu allem Überfluss wurde die Erziehung des Jungen 1866 an Dr. Georg Hinzpeter delegiert, einem puritanisch-spartanischen Zuchtmeister, der sowohl mit größter Härte gegen vermeintlich intellektuelle Schwächen Wilhelms ankämpfte als auch das erfolgreiche Vertuschen und Überkompensieren der Behinderung lehrte.

Tatsächlich ist noch im Erwachsenenalter der linke Arm etwa 15 Zentimeter kürzer als der rechte. Doch als der Pädagoge mit dem jungen Hohenzollern schulisch fertig war, hatte Deutschland ein Oberhaupt herangezogen bekommen, das mit einer Hand schießen, reiten, segeln und Kricket spielen konnte, ansonsten aber tief traumatisiert war und voller Neurosen steckte. Dem jungen Prinzen wurde durch all dies zudem keine liberale Einstellung „eingeimpft“, stattdessen wurde sein Großvater, der konservative Preußenkönig und erste deutsche Kaiser Wilhelm I. zum großen Vorbild.

»Zehn Jahre lang wurde der kleine Prinz einer Elektrisierungsbehandlung unterzogen und mit Wechsel- oder Gleichstrom behandelt.«

Aus diesem gequälten Kind wurde mit 29 Jahren Wilhelm II., der letzte deutsche Kaiser. Im Juni 1888 bestieg er den deutschen Thron. Einerseits stammte er aus der Linie der großen Hohenzollern, andererseits war er belastet von dem Gefühl, ein verstoßener Krüppel zu sein. Sein Spleen für militärische Kostüme, eine eigene Flotte, seine Vorliebe für markante Reden erscheinen vor diesem Hintergrund in einem anderen Licht.

Er war ein Kaiser, der aus fehlendem Selbstwertgefühl heraus versuchen musste, sich der Welt zu beweisen – eine letztlich fatale Konstellation. 1918 muss er nach immerhin 30 Jahren Regentschaft abdanken und der Republik weichen. Im Exil träumte er davon, irgendwann einmal im Triumph in seine Heimat zurückzukehren. Die letzten Lebensjahre verbrachte der Ex-Kaiser in seinem holländischen Schloß Doorn –vielfach beim Holzhacken. „Während seines Aufenthaltes … zersägte seine Majestät siebzehntausend Tannen“, schrieb etwa Wilhelms zweite Frau, Hermine Prinzessin von Preußen (1887 bis 1947) in ihrem Buch „Der Kaiser und ich“.

Sogar ein Angebot des britischen Premierministers Winston Churchill im Sommer 1940, der dem ehemaligen Kaiser, den die empörten englischen Massen zu Zeiten des 1. Weltkrieges noch aufhängen wollten, ein ehrenvolles Asyl in Großbritannien anbot, um ihn vor den im Westfeldzug heranrückenden deutschen Truppen dem Zugriff Hitlers zu entziehen, lehnte er mit Hinweis auf eine bestehende Herzkrankheit ab.

Ein Jahr später, am 4. Juli 1941 starb der letzte Hohenzollern-Kaiser mit 82 Jahren – vergessen von der Welt, ja sogar von seinem eigenen Volk, aber – so wird überliefert – wohl „im Frieden seiner Seele“. Bis heute ist er den Menschen jedoch eher als Gernegroß oder – aufgrund seiner oft impulsiven Entscheidungen – als „Wilhelm der Plötzliche“ im Gedächtnis.

Den Artikel finden Sie auch in Die PTA IN DER APOTHEKE 07/15 ab Seite 50.

Dr. Eva-Maria Stoya, Apothekerin / Journalistin

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