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Medikamentensucht

WENN OHNE TABLETTE NICHTS MEHR GEHT

In Deutschland gibt es Millionen von Menschen, die medikamentenabhängig sind. Besonders besorgniserregend ist hierbei die stetig zunehmende Zahl arzneimittelsüchtiger Senioren. Welche Hilfe können Sie als PTA hier geben?

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Das Bundesgesundheitsministerium spricht in seinem Drogen- und Suchtbericht 2013 von 1,4 bis 1,9 Millionen Medikamentensüchtigen. Andere Studien kommen zu einem noch höheren Ergebnis. So setzt das Institut für Therapieforschung in München zum Beispiel die Zahl der Tablettenabhängigen mit 2,3 Millionen an. Über eine Dunkelziffer lässt sich nur spekulieren, denn nicht jeder, der süchtig nach Medikamenten ist, wird dadurch zwangsläufig auffällig. Gerade bei Senioren, die altersbedingte Wesensänderungen zeigen, wird eine Arzneimittelabhängigkeit womöglich nie bemerkt.

Hauptsächlich Schlaf- und Beruhigungsmittel Die Mehrzahl der Medikamentensüchtigen ist abhängig von Schlaf- und Beruhigungsmitteln sowie von Schmerzmitteln wie opioidhaltigen Analgetika oder solchen mit Koffeinzusatz. Zunächst werden sie in einer akuten Phase genommen, um die Beschwerden zu lindern. Doch der Körper gewöhnt sich sehr schnell an diese Wirkstoffe. Er benötigt daher immer höhere Dosen, um den gleichen Effekt zu erzielen, was bereits nach wenigen Wochen körperlich abhängig machen kann.

Vor allen Dingen das in vielen Hustenblocker enthaltene Opiat Codein ist deshalb als Schmerzmittel riskant, aber auch herkömmliche Schmerzwirkstoffe wie etwa Paracetamol bergen bei längerfristiger Einnahme Risiken. So kann es zum Beispiel zu einem medikamenteninduzierten Kopfschmerz kommen, gegen den dann wiederum Schmerzmittel eingenommen werden.

Der leichte Weg ist nicht immer der beste Auf dem Gebiet der Medikamentensucht spielt neben der körperlichen auch die psychische Abhängigkeit eine große Rolle. Wer unter ständigem Schlafmangel, Unruhezuständen oder starken Schmerzen leidet, kann den Alltag meist nicht mehr problemlos meistern. Schlaf- und Beruhigungsmittel und Analgetika sind dann die schnelle und vermeintlich einfache Hilfe. So ist die Gefahr groß, auf die kleinen Helfer nicht mehr verzichten zu wollen – ein Grundproblem bei Medikamenten, die normale, wichtige Körperfunktionen wieder ins Lot bringen sollen.

EMOTIONALE VERFLACHUNG
Eine bestimmte Folge der Medikamentensucht ist gerade für ältere Menschen gefährlich: Bei längerer Abhängigkeit kann es zu einem generellen Abflachen aller Gefühle kommen, Emotionen werden nur noch gedämpft wahrgenommen. Das Gefühl, nicht nur psychisch, sondern auch physisch wie in Watte gepackt zu sein, kann zum einen leicht mit den ersten Anzeichen einer Demenz verwechselt werden, zum anderen ist die Sturzgefahr dadurch drastisch erhöht.

Aus demselben Grund sind viele Menschen auch süchtig nach Nasensprays. Wenn das Durchatmen nur noch mithilfe eines Spray möglich ist, mag man darauf nicht verzichten – auch, wenn man damit bereits nach einer Woche einen Teufelskreis auslöst. Denn die abschwellenden Wirkstoffe wie etwa Xylometazolin verursachen anschließend eine noch stärkere Durchblutung des Gewebes und damit eine immer verstopftere Nase. Solche Medikamente sollte man tatsächlich nur in einer Akutphase anwenden, jedoch möglichst nicht länger als ein paar Tage.

Abhängigkeit durch sozialen Druck Ein relativ neuer Trend beim Medikamentenmissbrauch, der fließend in eine Sucht übergehen kann, ist das Gehirn-Doping. Schüler und Studenten sprechen von einem immensen Leistungsdruck, dem viele nicht mehr gewachsen sind. Sie steigern daher ihre geistige Leistung immer häufiger mit Medikamenten. So kommt Ritalin zum Einsatz, damit man sich länger konzentrieren kann, oder ein Betablocker gegen die Prüfungsangst. Aufputschmittel wie Ephedrin oder Amphetamine sollen ebenfalls helfen, mehr leisten zu können. Diese Substanzen führen schnell in die Abhängigkeit. Die Dosis muss ständig erhöht werden – bis die Wirkung ins Gegenteil umschlägt und die Aufputschmittel Anspannung und Gereiztheit auslösen.

Im Alter süchtig Einen besonderen Stellenwert hat die Medikamentensucht im Alter. Während bis zum 50. Lebensjahr etwa gleich viele Frauen und Männer betroffen sind, steigt besonders die Zahl der abhängigen Frauen mit steigendem Alter signifikant an. So nehmen 11,5 Prozent der Frauen zwischen 70 und 79 Jahren regelmäßig Schlaf- oder Beruhigungsmittel, während es bei den Männern nur fünf Prozent sind.

Ältere Menschen leiden häufiger darunter, dass sie weniger oder unruhiger schlafen. Sie versuchen, ihren gewohnten Rhythmus mit Schlaftabletten wieder herzustellen. Gegen Einsamkeit oder Depressionen verschreiben manche Ärzte zudem Psychopharmaka, die von den Patienten möglicherweise kritiklos eingenommen werden.

Da Ältere häufig auch noch verschiedene weitere Medikamente nehmen müssen, besteht ein hohes Risiko für Arzneimittelinteraktionen, wodurch einzelne suchtgefährliche Substanzen wesentlich stärker wirken können als beabsichtigt. Wenn nicht alle Informationen zur Medikation beim Hausarzt zusammenlaufen, können so abhängig machende Cocktails entstehen.

Apotheken in der Pflicht Etwa die Hälfte aller Medikamente, die in Apotheken verkauft werden, sind rezeptpflichtig. Weitere knapp 40 Prozent werden ohne ärztliche Verschreibung im Rahmen der Selbstmedikation abgegeben. Dadurch kommt Ihnen als Berater eine wichtige Rolle in der Suchtprävention zu. Missbrauch wird definiert als Einnahme ohne medizinische Indikation oder übermäßige Einnahme, die körperliche beziehungsweise psychische Schäden mit sich bringt. Sie als PTA sind also angehalten, gerade bei der Abgabe von Substanzen mit großem Suchtpotenzial auszuloten, ob Ihr Kunde suchtgefährdet ist.

Besonders aufmerksam sollten Sie werden, wenn ein Kunde …

  • sehr häufig dasselbe Medikament nachfragt
  • vorgibt, ein Rezept verloren zu haben
  • für ein und dasselbe Medikament Rezepte von mehreren Ärzten vorlegt
  • es Hinweise gibt, dass er sich ein Medikament in kurzem Zeitraum in verschiedenen Apotheken beschafft hat.

Sie sollten dann einfühlsam hinterfragen, wie lange und in welche Dosierung das Medikament bereits eingenommen wird und ob der Kunde sich über das Suchtpotenzial der Substanz im Klaren ist.

Den Artikel finden Sie auch in Die PTA IN DER APOTHEKE 05/14 ab Seite 116.

Dr. Holger Stumpf, Medizinjournalist

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