Frau und Kind © fizkes / iStock / Getty Images
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Psychologie in der Apotheke

VERZEIHEN ALS CHANCE

Versöhnliches Verhalten gilt als selbstlos, ist allerdings auch für die Person, die verletzt wurde, befreiend. Um das Verzeihen zu erleichtern, gibt es verschiedene Techniken wie das Vier-Phasen-Modell von Enright.

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Rempelt man jemanden unbeabsichtigt an, fällt es nicht schwer, die Worte „Entschuldigung“ oder „Verzeihung“ auszusprechen – die Entschuldigung wird in der Regel gerne angenommen. Von Vergebung ist häufig im religiösen Kontext die Rede, man versteht darunter den Verzicht auf Schuldzuweisungen von Seiten einer Person, die sich als Opfer empfindet. Den Begriff Versöhnung benutzt man oft in theologischen und philosophischen Zusammenhängen, aber auch in der Alltagssprache, der Psychologie oder in der Politik.

Nach einem Konflikt oder einer Kränkung schließen beide Partner Frieden und vergeben einander. Ob verzeihen, versöhnen oder vergeben – es handelt sich hierbei um Instrumente, die das Leben leichter und gesünder machen. Man unterscheidet in der Vergebungsforschung das emotions- und entscheidungsbasierte Vergeben: Das emotionsbasierte Verzeihen beruht auf der Entscheidung, dass man sich von negativen Gefühlen wie Rache, Trauer oder Wut nicht mehr beeinflussen lassen möchte. Bei dem entscheidungsbasierten Vergeben geht es dagegen um Rationalität: Betroffene möchten verstehen, warum sie verletzt wurden.

Ursprung von Kränkungen Soziale Beziehungen sind für jeden Menschen lebenswichtig, man ist auf andere Personen angewiesen und ohne Kontakte nicht überlebensfähig. Begleiterscheinungen von Beziehungen sind Verletzungen, Beleidigungen, Verleumdungen oder Enttäuschungen, die vom Opfer als mehr oder weniger schwerwiegend empfunden werden, zu Emotionen wie Wut, Ärger, Aggressionen oder Hass und im schlimmsten Fall zu körperlichen und psychischen Beschwerden führen. Besonders in Partnerschaften sind Menschen verletzlich, denn sie geben viel von sich preis und investieren starke Gefühle. Die Partner können Geheimnisse ausplaudern, den anderen bloßstellen oder die Beziehung durch Fremdgehen belasten.

Der Sozialpsychologe Christian Schwennen von der Ruhr-Universität Bochum hat anhand von Befragungen herausgefunden, dass Situationen, die zu Eifersucht führen, Ursache für besonders starke emotionale Verletzungen sind. Er bezeichnet es als zwischenmenschliches Paradox, dass enge Bezugspersonen sowohl Quellen der positivsten als auch der negativsten Ereignisse sein können. Insgesamt erleben Frauen eher in Beziehungen Verletzungen, während Männer ihrer Meinung nach am Arbeitsplatz häufiger gekränkt werden. Ältere Menschen sind oft durch Mobbing oder das Gefühl, am Arbeitsplatz übergangen zu werden, getroffen. Junge Leute erfahren durch Seitensprünge, Lügen oder durch das Verlassen werden emotionale Tiefpunkte.

Vier Phasen des VergebensVerzeihen kann man laut der Auffassung des Psychologieprofessors Robert Enright von der Universität Wisconsin-Madison lernen. Der Prozess lässt sich in vier Phasen aufteilen: Zunächst durchleben Betroffene die Situation, unter deren Folgen sie leiden, bewusst, wobei Gefühle wie Trauer, Zorn oder Hass aufkommen. Im nächsten Schritt fällt der Entschluss, der Person zu verzeihen und sich aus dem Konflikt zu befreien. Dabei werden die Vorteile, die mit der Versöhnung in Verbindung stehen, berücksichtigt. Es folgt das Stadium des Verständnisses, in dem die Geschädigten an ihrem Verhältnis zum „Schädiger“ arbeiten. Sie versuchen, die Tat zu verstehen, ohne das Verhalten zu entschuldigen.

Das widerfahrene Unrecht wird angenommen, außerdem sehen Betroffene von Rache oder einem eigenen Angriff ab. In der letzten Phase der Akzeptanz erkennen Menschen, denen Leid zugefügt wurde, dass es gut tut, die negativen Emotionen loszulassen und gegen Wohlwollen oder Empathie auszutauschen. Die Bremer Psychotherapeutin Angelika Rohwetter ist der Meinung, dass die Erkenntnis, am Geschehen beteiligt gewesen zu sein, das Verzeihen erleichtert, denn Menschen finden dadurch ihre eigene Handlungsfähigkeit wieder. Bei leichteren Konflikten (nicht bei schweren Verletzungen oder dem Erleben von Gewalt oder Missbrauch) kann die Einsicht, einen Eigenanteil an dem Geschehnis zu haben, Personen, die sich als Opfer fühlen, entlasten.

»Man kommt in der Freundschaft nicht weit, wenn man nicht bereit ist, kleine Fehler zu verzeihen«, fand der französische Schriftsteller Jean de La Bruyère.

Vergeben als Selbstheilung Verzeihen wird häufig als Geschenk des Opfers an den Täter gesehen. Der Geschädigte springt über seinen Schatten und spricht den Verursacher der Verletzung von seiner Schuld frei. Dabei kommt die Vermutung auf, dass an erster Stelle der Täter von dem Akt der Vergebung profitiert. Doch aus der Opferrolle herauszutreten gibt dem Geschädigten auch seine Freiheit und sein Gleichgewicht zurück. Betroffene fühlen sich nicht mehr ohnmächtig und sind für zukünftige Verletzungen gerüstet. Man geht aufgrund verschiedener Studien davon aus, dass älteren Menschen das Vergeben leichter fällt und sie durch ihre Vorerfahrungen besser mit negativen Emotionen wie Wut, Trauer oder Enttäuschung umgehen können als jüngere Personen.

Gesundheitsförderlicher Prozess Enright konnte anhand seiner Studie zeigen, dass Verzeihen heilend wirkt. Er untersuchte Männer, über deren Kopf hinweg die Partnerin einen Schwangerschaftsabbruch veranlasst hat, sowie Frauen, die Opfer sexuellen Missbrauchs wurden. Nach dem Schritt-für-Schritt-Vergeben war die psychische Gesundheit der Menschen, die vergeben haben, besser als die der Kontrollgruppe. Versöhnung reduziert den Stress, sich in einer ausweglosen Situation zu befinden, und dies hat Auswirkungen auf den Organismus: Die Cortisolausschüttung, die das Immunsystem schwächt und anfällig für Tumor- und Stoffwechselerkrankungen macht, nimmt ab, zudem legte eine Untersuchung der Duke-Universität in Durham nahe, dass Versöhnen sogar Depressionen und chronische Rückenschmerzen verbessert.

Rache ist nicht süß Rache hingegen bringt zwar eine kurzfristige Genugtuung, verschafft Betroffenen allerdings langfristig keinen Vorteil, wie einige Studien (zum Beispiel die des Psychologen Kevin Carlsmith von der Colgate-Universität in Hamilton) zeigten. Über Rache nachzudenken und sie zu planen, kostet viel Zeit und Energie. Auch das Verdrängen von Gefühlen, die durch Kränkungen oder Verletzungen hervorgerufen wurden, ist alles andere als sinnvoll. Verdrängte Emotionen können immer wieder ins Bewusstsein gelangen, außerdem spaltet man mit den Gefühlen weitere wichtige Bereiche der Psyche ab. Häufig reagiert der Organismus mit körperlichen Symptomen wie Kopf-, Bauch- oder Rückenschmerzen.

Aktivität im Hirn Das Gehirn leistet beim Verzeihen ganze Arbeit, wie Auswertungen von magnetresonanztomografischen Aufnahmen beweisen: Der untere Scheitellappen, der Precuneus (ein Teil des medialen Hirnmantels) sowie der dorsolaterale präfrontale Kortex im Stirnhirn weisen bei dem Prozess Aktivität auf. Diese Hirnbereiche sind auch an der Wahrnehmung von Empathie sowie an der Gefühlsregulation beteiligt. Frauen scheint das Verzeihen schwerer zu fallen als Männern, bei ihnen zeigte sich eine hohe Aktivität des sogenannten anterioren cingulären Kortex, der normalerweise beim Schmerzempfinden eine Rolle spielt.

Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 12/19 ab Seite 82.

Martina Görz, PTA, M.Sc. Psychologie und Fachjournalistin

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