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Nicht jeder bekommt automatisch einen Tinnitus

VERSTECKTE HÖRSCHÄDEN

Unsere Ohren sind täglicher Lärmbelastung ausgesetzt. Bei unbeeinträchtigten Hörschwellen hielt man dies bislang fälschlicherweise für unbedenklich.

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Kennen Sie das auch? Dieses dumpfe Gefühl in den Ohren nach einem Live-Konzert oder auch der lauten Feier zu Hause? Oft empfindet man unmittelbar nach einem solchen Ereignis ein deutlich verschlechtertes Hörvermögen, etwa, wenn einen der Partner anspricht kurz bevor man zu Bett geht. Am anderen Morgen jedoch scheint alles wieder in Ordnung zu sein, man hört wieder normal, die Ohren scheinen sich erholt zu haben.

Dies ist aber leider nicht der Fall. Bei einem durchschnittlichen Rockkonzert kann leicht eine mittlere Lärmbelastung von 100 dB erreicht werden, in kleineren Räumen wie etwa Clubs durchaus auch mehr. Diese 100 dB(A) entsprechen dabei den Grenzwerten in mehreren europäischen Staaten wie auch dem Richtwert der WHO und werden demnach allgemein als unbedenklich betrachtet.

Neuere Studien haben inzwischen aber gezeigt, dass wir hier offenbar zu leichtfertig mit unserem Hörsinn umgehen: Mäuse, die man für zwei Stunden einem Rauschen von 100 dB(SPL) aussetzte, einer Belastung also, die in etwa der eines Rockkonzerts vergleichbar sein dürfte, zeigten unmittelbar nach der Lärmbelastung eine leichte Erhöhung ihrer Hörschwellen, also ein verschlechtertes Hörvermögen. Dieses erholte sich aber im Verlaufe weniger Tage und war nach spätestens zwei Wochen nicht mehr nachzuweisen – ganz ähnlich also wie Ihre persönlichen Erfahrungen sein dürften, falls Sie mal so ein Konzert besucht haben.

Bei der Untersuchung der Innenohren der Mäuse, der Hörschnecken oder Cochleae, fand man zunächst auch keine offensichtlichen Schädigungen der Haarzellen, also derjenigen Zellen, die sensitiv für Schallwellen sind und diese in elektrische Signale umsetzen, die dann vom Gehirn verarbeitet werden können.

Die Überraschung kam aber, als man sich die Nervenfasern genauer anschaute, die synaptische Verbindungen mit den Haarzellen eingehen: Hier fand sich eine drastische Reduzierung der Synapsen zwischen den Fasern und den Haarzellen und in der späteren Folge eine Degeneration der Hörnervenfasern selbst. Offensichtlich sind also die Hörschwellen, die auch der Audiologe in seiner Praxis routinemäßig zur Ermittlung eines Hörschadens misst, auch dann noch unbeeinträchtigt, wenn wenigstens ein paar Hörnervenfasern überleben.

Ein bestehender Hörschaden kann daher unter Umständen so gar nicht diagnostiziert werden und bleibt unentdeckt. Sie als Patient nehmen diesen in ruhiger Umgebung vermutlich auch nicht wahr, aber in lauter Umgebung bemerken Sie möglicherweise, dass Sie Probleme haben, zum Beispiel einzelne Sprecher aus einem Stimmengewirr herauszuhören. Auch Tinnitus oder Hyperakusis, eine unangenehme Überempfindlichkeit gegen Schall, können Folgen eines solchen „versteckten“ Hörschadens sein. Offensichtlich unterschätzen wir bislang die Gefahren selbst als moderat empfundener Lärmbelastungen für unser Gehör – aber sowas kennt man aus anderen Zusammenhängen ja auch …

ZUR PERSON

Prof. Dr. Holger Schulze
Hirnforscher
Holger.Schulze@uk-erlangen.de

Prof. Dr. Schulze ist Leiter des Forschungslabors der HNO-Klinik der Universität Erlangen-Nürnberg
sowie auswärtiges wissenschaftliches Mitglied des Leibniz-Instituts für Neurobiologie in Magdeburg.
Seine Untersuchungen zielen auf ein Verständnis der Neurobiologie des Lernens und Hörens.
www.schulze-holger.de

Den Artikel finden Sie auch in Die PTA IN DER APOTHEKE 05/14 auf Seite 12.

 


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