© bowie15 / iStock / Getty Images Plus
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Kolumne | Prof. Dr. Aglaja Stirn

VERSCHWÖRUNGSMYTHEN

Hatten Sie auch schon einmal das Gefühl, dass die Ampel immer bei Ihnen rot ist, Sie im Restaurant immer als letzter bedient werden oder dass es an der Supermarktkasse immer in Ihrer Schlange Komplikationen gibt?

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Mit diesen Gedanken vermuten Sie einen Plan hinter dem, was für Sie wie eine gewisse Ordnung aussieht. Und wenn Sie diese Gedanken noch etwas weiterspinnen, können Sie auch bei Verschwörungen landen. Zum Beispiel, dass Bill Gates das Coronavirus in die Welt gesetzt hat oder gar die Chinesen es mit Absicht im Labor gezüchtet haben. Oder dass Lady Di gar nicht tot ist. Oder wie wäre es mit der Vorstellung, dass unsere wirtschaftliche und politische Elite von einer außerirdischen Rasse von Reptilienwesen unterwandert ist, die menschliche Gestalt annehmen können?

Verschwörungstheorien vermitteln ein nützliches Angebot, wenn der Mensch in einer Krise ist und nicht weiß, warum das geschieht, was gerade geschieht: Aus der Möglichkeit, etwas erklären zu können, entsteht das Gefühl, die Dinge auch unter Kontrolle zu haben. Anstatt es aushalten zu müssen, dass etwas ohne Grund geschieht, wird ein nachvollziehbarer Rahmen von Plänen und Kausalitäten geliefert, Sinn und Bedeutung gestiftet. Zudem ist man selbst ja derjenige, der das Ganze durchschaut und den Überblick hat. Und das macht einen den anderen gegenüber überlegen. Es gibt harmlose Verschwörungsideen, aber auch sehr gefährliche, die dann zum Beispiel antisemitisch oder rassistisch sind. Natürlich müssen diese Verschwörungstheorien zur Grundüberzeugung passen.

»Misstrauische Menschen neigen zu Verschwörungsmythen.«

Zu gerne ignorieren oder verdrängen Menschen dann die Fakten und Wahrnehmungen, die nicht zur Theorie passen. Die Forschung hat gezeigt, dass Menschen, die eher misstrauisch sind, ein besonders starkes Bedürfnis nach Kontrolle haben und von ihrer Einzigartigkeit überzeugt sind, stärker zu Verschwörungsideen neigen. In gewisser Weise kommt die Bereitschaft daran zu glauben, aus der gleichen Quelle wie die Bereitschaft, an Götter zu glauben. Die Welt wird dadurch überschaubarer, bekommt Struktur und Ordnung. Statt anonymer Kräfte hat man es mit Wesen zu tun, denen man Motive und Absichten zuschreiben kann, deren Handeln man also ein Stück weit vorhersagen kann. Die man vielleicht sogar ein Stück weit steuern oder zumindest mit ihnen verhandeln kann, indem man Dinge tut, die ihnen gefallen und die sie womöglich belohnen.

Es gibt den Begriff der Selbstwirksamkeit, also das Gefühl oder Erleben, dass man Kontrolle über sein Leben hat. In gewisser Weise ist es paradox, dass der Glaube an etwas Übermächtiges – in diesem Fall keine unfassbare Wesenheit, sondern ein anderer Mensch oder eine Organisation der Seele ein besseres Gefühl, eine größere Selbstwirksamkeit, geben kann, als der „Glaube“ an ein lediglich desinteressiertes Universum. Bei allem Verständnis für den berechtigten Wunsch, bedrohliche und für viele schwer nachvollziehbare Situationen wie die Corona-Krise zu verstehen, Verschwörungsmythen haben rational betrachtet mit der Realität nichts zu tun und helfen einer Gesellschaft auch nicht weiter. Wie wäre es mit dieser ganz simplen Erklärung für unsere momentane Situation: Es ist einfach eine Pandemie. So wie es das in der Menschheitsgeschichte immer wieder gegeben hat.

Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 10/2020 auf Seite 12.

Zur Person
Professor Dr. Aglaja Stirn ist Direktorin des Instituts für Sexualmedizin und forensische Psychiatrie und Psychotherapie, Fachärztin für Psychosomatische Medizin, Gruppentherapie, Psychoanalyse und Sexualtherapie an der Universität Kiel, Zentrum für Integrative Psychiatrie ZIP.
www.zip-kiel.de 

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