© Die PTA in der Apotheke
© Die PTA in der Apotheke

Interview

ÜBERGEWICHT BEI KINDERN

Mehr als die Hälfte der deutschen Erwachsenen ist zu dick – einen Blick auf den Nachwuchs wirft Priv.-Doz. Dr. med. Thomas Ellrott, Leiter des Instituts für Ernährungspsychologie an der Universitätsmedizin Göttingen und Sektionsleiter der Deutschen Gesellschaft für Ernährung, Sektion Niedersachsen.

Seite 1/1 5 Minuten

Seite 1/1 5 Minuten

Werden in Deutschland Kinder und Jugendliche tatsächlich immer dicker?
Die Daten der Schuleingangsuntersuchungen zeigen, dass seit etwa zehn Jahren keine Zunahme von Übergewicht und Adipositas in der Altersgruppe der Fünf- bis Sechsjährigen mehr zu verzeichnen ist. Es gibt jedoch auch keinen Rückgang. Die Zahl übergewichtiger und adipöser Kinder ist seither auf recht hohem Niveau konstant.

Bei den älteren Kindern und Jugendlichen gibt es keine regelmäßigen Erhebungen. Nach der letzten umfassenden Studie sind etwa 15 Prozent aller Kinder und Jugendlichen hier zu Lande übergewichtig und circa 6 Prozent adipös.

Welchen Einfluss hat die heutige ständige Verfügbarkeit gerade von „Riesenportionen” in der Gastronomie? Übergewicht ist Konsequenz eines Lebensstils, auf den wir Menschen evolutionsbiologisch nicht vorbereitet sind. Natürlich spielt die Kalorienaufnahme durch Essen und Trinken dabei eine Rolle, aber auch die Bewegungsarmut des heutigen Lebensalltags. Wir wissen heute, dass „Super size meals” eine hohe Kalorienaufnahme und damit Übergewicht begünstigen. Allerdings ist das nur ein Faktor von vielen, die alle zusammen zur Ausprägung von Übergewicht führen. Es gibt dabei keinen Faktor, der allein verantwortlich ist. Und es wird trotz gleichen Lebensstils auch nicht jeder gleichermaßen dick, da es auch eine unterschiedliche individuelle genetische Disposition gibt.

VITA
PD Dr. med. Thomas Ellrott war von 1995 bis 2002 wissenschaftlicher Mitarbeiter, von 2002 bis 2007 stellvertretender Institutsleiter der Ernährungspsychologischen Forschungsstelle der Universitätsklinik Göttingen. 2007 erfolgte die Habilitation in Ernährungspsychologie, im selben Jahr übernahm er die Leitung des Instituts für Ernährungspsychologie der Universität Göttingen. Seine Schwerpunkte sind Prävention und Therapie von Adipositas, erfolgreiche Gewichtsstabilisierungsstrategien, Essverhalten in Deutschland, wie Kinder essen lernen, kommunikative Aspekte in der Ernährung, Verbraucherverhalten und Ernährungstrends.

Adipöse Eltern, adipöses Kind – hat der Nachwuchs hier überhaupt eine Chance?
Kinder teilen mit ihren Eltern sowohl die Gene als auch den Lebensstil. Das führt dazu, dass das Risiko von Kindern übergewichtig zu werden bei übergewichtigen Eltern besonders hoch ist.

„Das verwächst sich noch” – ab wann sollten Eltern aufmerksam werden, wenn ihr Kind an Gewicht zunimmt?
Es gibt natürlich unterschiedliche Schweregrade von Übergewicht. Das individuelle Ausmaß des Problems lässt sich am besten mithilfe von so genannten BMI-Perzentilenkurven abschätzen. Der Kinderarzt trägt in diese Kurven die Entwicklung des Body-Mass-Index des Kinder im Vergleich zu einer Referenzgruppe gleichen Alters und gleichen Geschlechts regelmäßig ein.

An wen können sich die Eltern im Weiteren wenden?
Der Kinderarzt ist ein guter Ansprechpartner, da er die professionellen therapeutischen Angebote in der Region gut kennt. Betroffene Eltern können sich außerdem auf der Homepage der Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kinder- und Jugendalter (AGA) www.aga.adipositas-gesellschaft.de die Adressen von zertifizierten ambulanten oder stationären Therapieeinrichtungen anzeigen lassen. Zudem informiert die Seite über die Ursachen und das Ausmaß kindlicher Adipositas und gibt Literaturempfehlungen.

Welche langfristigen Folgen hat das erhöhte Körpergewicht in jungen Jahren?
Einmal kann es psychische Probleme geben, da stark übergewichtige Kinder häufig gehänselt werden. Zusätzlich gibt es ein erhöhtes Risiko für Herz-Kreislauf-Krankheiten und beispielsweise von Diabetes Typ 2.

Wo liegen die Schwierigkeiten in der Therapie übergewichtiger Kinder?
Da gibt es leider gleich eine ganze Reihe. Einmal wird durch die therapeutischen Angebote nur ein Bruchteil der betroffenen Kinder erreicht. Zweites Problem: Man therapiert unter Umständen Kinder, die im Verlauf der Pubertät ohne weitere Maßnahmen von selbst aus ihrem Übergewicht heraus gewachsen wären. Drittens gibt es natürlich auch ein Risiko von Essstörungen, wenn Kinder beginnen, ihr Essverhalten zu zügeln.

Wie erfolgsversprechend sind Therapien bei Kinder und Jugendlichen?
Ein weiteres Problem: Denn selbst bei hochprofessionellen Therapieangeboten ist nicht jedes Kind erfolgreich. Bei qualitätsgesicherten und evaluierten Therapieangeboten überwiegt aber der wahrscheinliche Nutzen das Risiko des Misserfolgs.

Antiadiposita oder freiverkäufliche „Abnehmdrinks” – sind diese auch für Kinder schon zugelassen und geeignet?
Gerade bei Kindern spricht viel für eine möglichst „natürliche” Strategie zum Abnehmen. Bei Jugendlichen mit erheblicher Adipositas kann man jedoch in Einzelfällen den Wirkstoff Orlistat oder eine Formuladiät zusätzlich zu einem umfassenden Therapieprogramm einsetzen.

Magenband & Co – kommen diese chirurgischen Eingriffe auch bereits bei jungen Patienten zum Einsatz?
In den USA werden zunehmend auch morbid adipöse Jugendliche chirurgisch therapiert. Allerdings ist die Prävalenz von Adipositas permagna im Jugendalter dort deutlich höher als bei uns.

INSTITUT FÜR ERNÄHRUNGSPSYCHOLOGIE
Das Forschungs- und Lehrinstitut an der Georg-August-Universität Göttingen wurde im Jahr 2007 als Nachfolger der Ernährungspsychologischen Forschungsstelle, die von Herrn Prof. Dr. Volker Pudel geleitet wurde, an der Göttinger Universitätsmedizin gegründet. Hauptaufgabe des Instituts ist die interdisziplinäre Forschung über das menschliche Essverhalten zwischen Ernährungswissenschaft,
Psychologie, Pädagogik und Medizin. Dabei werden die Determinanten menschlichen Essverhaltens untersucht. Weitere Informationen finden Sie unter www.ernaehrungspsychologie.org.

Stichwort Prävention: Wie fördern Eltern ein normales Essverhalten bei ihren Kindern?
Eltern geben den Rahmen für die Entwicklung des Essverhaltens ihrer Kinder vor. Das wesentliche Lernprinzip ist auch beim Essen das Lernen durch Beobachtung. Eltern und andere Vorbilder sollten daher vielfältige Lebensmittel selbst mit Genuss essen. Kinder messen Eltern beim Essen an dem was sie tun, nicht an dem was sie sagen.

Sollten süße und fettreiche Lebensmittel zuhause komplett verboten werden?
Das ist keine gute Idee, denn starke Verknappung macht das Verlangen besonders hoch. Die Kinder essen dann von diesen Lebensmitteln besonders viel, wenn sie ihrer habhaft werden können.

Hintergrundinformation Bei der Beurteilung des BMI-Wertes von Kindern und Jugendlichen müssen alters- und geschlechtsspezifische Veränderungen, bedingt durch altersphysiologische Veränderungen der Fettmasse als auch der fettfreien Masse, berücksichtigt werden. Das Projekt der Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kinder- und Jugendalter myBMI.de bietet Eltern daher die Möglichkeit, den Body-Mass-Index ihres Kindes zu berechnen und zu beurteilen.

Die Seite unterstützt zudem die Dokumentation der Messungen durch die Möglichkeit, diese zu speichern und in Form von Tabellen und Grafiken auszuwerten. Dabei werden die Referenzwerte in Form von so genannten Perzentilkurven grafisch dargestellt. BMI-Perzentile geben an, wie viel Prozent der untersuchten Personen einen kleineren BMI-Wert haben, der bei dem jeweiligen Perzentil angegeben ist. Die Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kinder und Jugendalter empfiehlt die Anwendung der 90. Perzentile zur Definition von Übergewicht und der 97. Perzentile von Adipositas.
Quelle: www.mybmi.de  

Achtung Diät! Der aktuellen Leitlinie der AGA zufolge wird die Durchführung von pauschalen Reduktionsdiäten durch

  • rigide Reduktion des Gesamtverzehrs einschließlich nährstoffdichter Lebensmittel zum Beispiel auf 800 bis 1000 kcal pro Tag wie aus der Erwachsenentherapie bekannt oder durch
  • Einhaltung einer speziellen Diät (z. B. extreme Nährstoffrelationen, Außenseiterdiäten) nicht empfohlen, da damit eine altersgemäße Nährstoffzufuhr bei Kindern und Jugendlichen gefährdet wird.

Balancierte Kostformen mit sehr geringer Energiezufuhr (Gesamtenergiemenge 800 bis 1000 kcal pro Tag, beispielsweise als Formuladiät, proteinsparendes modifiziertes Fasten) ermöglichen einen starken Gewichtsverlust in einem kurzen Zeitraum, haben jedoch keinen langfristigen Effekt. Solche Maßnahmen können in speziellen Fällen unter intensiver Betreuung durch Experten eingesetzt werden. Quelle: www.aga.adipositas-gesellschaft.de

Den Artikel finden Sie auch in Die PTA IN DER APOTHEKE 02/12 ab Seite 98.

Das Interview führte Dr. Petra Kreuter / Redaktion

×