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Psychologie

TÖDLICHER GEHORSAM

Das Milgram-Experiment löst bis heute aufgrund seiner unerwarteten Ergebnisse eine Faszination aus. Viele sind bereits beim Lesen „geschockt“ und denken wohl insgeheim, dass sie selbst nicht so handeln würden.

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Die meisten Menschen haben schon einmal vom sogenannten Milgram-Experiment gehört: Dieses offenbarte im Jahr 1961, dass der Mensch skrupellos zu sein scheint. Stanley Milgram untersuchte in seinem Versuch, ob ahnungslose Teilnehmer in der Funktion eines Lehrers anderen Menschen Elektroschocks verpassen würden, wenn diese eine Aufgabe (in der Rolle des Schülers) falsch lösen. Das Ergebnis war, dass die Mehrheit der Versuchspersonen der Autorität, also dem Versuchsleiter, vollständig gehorchte und kein Teilnehmer den Versuch unter 300 Volt beendete. Immerhin 56 Prozent der Versuchspersonen teilten tödliche Stromschläge von bis zu 450 Volt an die vermeintlichen Schüler im Nebenraum aus, deren Schmerzensschreie währenddessen deutlich zu hören waren.

Versuchsaufbau Ein ahnungsloser Proband nimmt zusammen mit einem „Schüler“ und einem Versuchsleiter an dem Experiment teil – Leiter und „Schüler“ sind dabei eingeweiht und spielen ihre Rollen nach einem vorgegebenen Drehbuch. Letzterer wird in einem benachbarten Raum an Elektroden angeschlossen, soll vorgegebene Wortpaare lernen und seine Lösungen per Tastendruck eingeben. Die eigentliche Versuchsperson, also der Lehrer, erhält zu Beginn einen Probeschock von lediglich 45 Volt und wird im weiteren Verlauf dazu angehalten, den Schüler bei jeder falschen Antwort über eine Apparatur mit Elektroschocks zu bestrafen. Bei jedem erneuten Fehler wird die Stärke der Schocks angeblich um je 15 Volt gesteigert, bis sie die höchste Stufe von 450 Volt erreichen.

Der Schüler macht dabei – gemäß einem zuvor abgesprochenen Plan – immer wieder Fehler und sein Protest gegenüber der folgenden Strafe nimmt mit der Heftigkeit der Stromschläge zu. Bei 75 Volt stöhnt er, bei 150 Volt verlangt er nach dem Abbruch des Experiments und bei 180 Volt schreit er vor Schmerzen. Bei 300 Volt besteht der Schüler darauf, befreit zu werden, während der Versuchsleiter den Probanden immer wieder darauf hin verweist, dass es keine andere Wahl gebe, als fortzufahren. Das Experiment bringt die Versuchsperson somit in eine prekäre Situation: Einerseits übt der Leiter Druck auf sie aus, gleichzeitig sind die Schmerzen des Schülers im Nachbarraum nicht zu überhören.

Der amerikanische Psychologe wurde am 15. August 1933 in New York geboren, er starb am 20. Dezember 1984 im Alter von 51 Jahren an einem Herzinfarkt und hinterließ seine Frau mit zwei Kindern. Bekannt wurde er durch sein Experiment, in dem er die Zusammenhänge zwischen Autoritäten und Gehorsam untersuchte.

Besondere Bedingungen Milgram stellte abschließend fest, dass bei einer höheren räumlichen Nähe zwischen Lehrer und Schüler die Bereitschaft sank, Schocks zu verteilen. Außerdem verminderte sich der Gehorsam der Versuchsperson, wenn sich die Distanz des Versuchsleiters zu ihr vergrößerte. Eine Variante mit zwei sich widersprechenden Versuchsleitern hatte zur Folge, dass das Experiment von allen Probanden abgebrochen wurde. Durften die Versuchspersonen die Volt-Zahl selbst wählen, blieb sie in unteren Bereichen. Wenig Gehorsam trat auf, wenn der „Schüler“ die Elektroschocks selbst verlangte oder die Autoritätsperson das Opfer war. Die Befunde deuteten demnach darauf hin, dass die Situation und nicht die Unterschiede zwischen den Teilnehmern die Ergebnisse überwiegend beeinflussten.

Neuauflagen des Experiments Milgrams Versuch wurde einige Male wiederholt, wobei sich die Ergebnisse größtenteils bestätigten – insbesondere in Bezug auf die Bereitschaft, dem Versuchsleiter Folge zu leisten. Aufgrund der Untersuchung wurden zahlreiche kontroverse Diskussionen entfacht, in denen die ethische und moralische Frage aufkam, ob es gerechtfertigt sei, Menschen in eine derart belastende Situation zu bringen. Aufgrund von berufsethischen Richtlinien gab es daher seit 1985 keine weitere Replikation des Milgram-Versuchs. Allerdings fanden seit 2006 neue Experimente in der Art Milgrams statt: Der Psychologe Jerry M. Burger wiederholte den Versuch, da er feststellte, dass 80 Prozent der Probanden, welche die 150-Volt-Stufe überschritten, bis zum Ende weitermachten. Daher ist es, vor allem aus ethischer Sicht, möglich, das Experiment stets bei dieser Stufe zu beenden.

Warum gehorchen Menschen überhaupt? Grundsätzlich möchten sich Menschen richtig verhalten und von anderen gemocht werden. Sie richten sich danach, so zu handeln, wie andere es tun, oder das zu erfüllen, wozu sie aufgefordert werden, mit dem Ziel akzeptiert und geschätzt zu werden. Hinzu kommt, dass sich Menschen in neuen, mehrdeutigen Situationen auf andere Personen verlassen und Verhaltenshinweise (vor allem von Experten) annehmen. In Milgrams Experiment war es für die Probanden schwierig, nicht zu gehorchen, denn kein Argument, das sie zum Abbruch hervorbrachten, stellte die Autorität zufrieden.

Hätte es für die Versuchspersonen einen einfachen Weg (etwa einen Beenden-Knopf) gegeben, hätten einige wahrscheinlich nicht gehorcht. Ein weiterer Erklärungsansatz besteht darin, dass die Voltstärke schrittweise angestiegen ist. Es wäre somit ein Widerspruch aufgekommen, bei 165 Volt zum Beispiel einen Stromschlag auszuteilen und bei 180 Volt davon abzusehen. Dieser Sachverhalt machte es den Probanden zusätzlich schwer, den „kleinen Schritt“ zur nächst höheren Stufe abzulehnen.

Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 12/17 ab Seite 124.

Martina Görz, PTA und Fachjournalistin

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