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Seltene Erkrankungen von A bis Z

RETT-SYNDROM

Bei Betroffenen ist die Entwicklung des zentralen Nervensystems gestört. Das Alter beim Einsetzen der Symptome sowie ihre Schwere variieren von Patient zu Patient.

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Das Rett-Syndrom tritt fast ausschließlich bei Mädchen auf. Etwa 50 erkranken jedes Jahr in Deutschland daran, das entspricht einer von 10 000 bis 15 000 weiblichen Geburten. Damit ist diese Erkrankung laut Rett Syndrom Deutschland e.V. nach dem Down-Syndrom die zweithäufigste Behinderung bei Mädchen.

Ursache für die Krankheit sind Mutationen in einem für die Entwicklung des Gehirns wichtigem Gen auf dem X-Chromosom. Diese Mutationen werden meist nicht vererbt, sondern treten spontan bei der Bildung der Keimzellen auf. Befruchtet sodann ein Spermium mit einem veränderten Gen eine Eizelle und entsteht daraus ein Embryo, so erkrankt das Kind am Rett-Syndrom. Weil Mädchen zwei X-Chromosomen haben – davon ein gesundes – können sie mit der Mutation überleben und die Erkrankung kann unterschiedlich schwer verlaufen. Betroffene Jungen dagegen versterben in aller Regel bald nach der Geburt.

Vier Krankheitsstadien Zunächst erscheinen die Mädchen bei der Geburt und in der Zeit danach gesund. Doch nach 6 bis 18 Monaten verlangsamt sich ihre Entwicklung: Sie verlieren das Interesse an Spielzeug und haben weniger Augenkontakt mit ihrer Umwelt. Die motorische Entwicklung wie Sitzen oder Krabbeln verzögern sich, nicht alle Betroffenen lernen laufen. Eventuell wächst der Kopfumfang weniger schnell als bei gesunden Kindern.

Nach diesem Verlangsamungsstadium folgt das sogenannte destruktive Stadium (Stadium II). Es beginnt im Alter von ein bis vier Jahren und kann Wochen oder Monate andauern. Die Mädchen verlernen, ihre Hände zu gebrauchen und beginnen stattdessen stereotype Handbewegungen zu machen wie Waschen oder Wringen. Die soziale Interaktion nimmt weiter ab. Bereits erlernte motorische Fähigkeiten und Sprache gehen wieder verloren. Bei manchen Kindern treten Schrei- oder Lachattacken auf; dazu kommen Unregelmäßigkeiten bei der Atmung. Das verlangsamte Wachstum des Kopfes ist nun deutlich.

DIAGNOSE
Aber nicht alle Menschen mit einer Mutation im MECP2-Gen erkranken zwingend am Rett-Syndrom. Zudem sind inzwischen weitere Mutationen in anderen Genen bekannt, die ein atypisches Rett-Syndrom verursachen können. Die Diagnose wird daher vor allem klinisch gestellt. Ein Gentest kann einen Verdacht bestätigen.

Im zweiten bis zehnten Lebensjahr verleben die Mädchen die sogenannte Plateau- oder pseudostationäre Phase (Stadium III). Sie zeigen wieder mehr Interesse an ihrer Umgebung, ihre Aufmerksamkeit verlängert sich und die soziale Interaktion nimmt wieder zu. Allerdings treten nun epileptische Anfälle auf. Zudem haben betroffene Kinder Probleme, Bewegungen willkürlich und zielgerichtet auszuführen (Apraxie).

Etwa ab dem zehnten Lebensjahr beginnt das späte motorische Verschlechterungsstadium (Stadium IV). Es zeichnet sich durch eine verringerte Beweglichkeit aus, bedingt durch eine Kombination aus Wirbelsäulenverkrümmung, Muskelschwäche, Steifheit und Spastiken. Falls die Mädchen vorher laufen konnten, verlieren sie diese Fähigkeit nun wieder und benötigen einen Rollstuhl.

ÜBERSICHT
In unserer Serie „Seltene Erkrankungen A bis Z“ stellen wir Ihnen demnächst folgende Themen vor:
+ Sarkoidose
+ Transverse Myelitis
+ Ullrich-Turner-Syndrom
+ von Hippel-Lindau Erkrankung (VHL)
+ Williams-Beuren-Syndrom
+ Xanthinurie

Epileptische Anfälle dagegen treten seltener auf. Das Kontaktverhalten sowie die kognitiven Fähigkeiten verbessern sich eher. Verdauungsstörungen, Herzprobleme oder Angststörungen sind möglich. Über die Lebenserwartung ist bislang wenig bekannt, zumal die Erkrankung erst vor 50 Jahren von dem Wiener Kinderarzt Andreas Rett erstmalig beschrieben wurde. Vermutlich liegt sie bei mindestens 40 bis 50 Jahren.

X-Inaktivierung Verantwortlich für die überwiegende Mehrzahl der Fälle sind Mutationen in einem Gen namens MECP2, das auf dem X-Chromosom lokalisiert ist. Es kodiert für ein Protein, das für die Entwicklung des Gehirns wichtige Gene reguliert. Ist das Gen mutiert, so kann nicht ausreichend oder nur funktionell eingeschränktes MECP2-Protein hergestellt werden – es resultieren Fehler in der Genregulation. Mädchen verfügen über zwei X-Chromosomen, wovon in jeder Zelle nach dem Zufallsprinzip nur eines aktiv ist (X-Inaktivierung).

Dadurch entsteht im weiblichen Körper ein Mosaik aus Zellen, in denen entweder das mutierte oder das gesunde MECP2-Gen inaktiviert ist. Davon abhängig kann das Rett-Syndrom unterschiedlich ausgeprägt sein.

Behandlung Bislang ist eine Heilung nicht möglich. Die Therapie erfolgt daher symptomatisch: So erhalten die Patientinnen etwa Medikamente zur Stabilisierung der Atmung und zur Kontrolle der epileptischen Anfälle. Die Skoliose muss regelmäßig untersucht werden, eventuell kann eine Korsett helfen.

Ergotherapie und Physiotherapie spielen eine wichtige Rolle. Vor allem seit der Entdeckung des MECP-Gens im Jahr 1999 macht die Forschung Fortschritte: In Tiermodellen konnten erste Therapieerfolge erzielt werden und verschiedene Substanzen werden in frühen klinischen Studien getestet. Bis zur möglichen Zulassung eines Medikaments ist der Weg aber noch weit.

Den Artikel finden Sie auch in Die PTA IN DER APOTHEKE 08/14 ab Seite 82.

Dr. Anne Benckendorff, Medizinjournalistin

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