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Stress

REINE NERVENSACHE

Schon vor mehr als einem Jahrhundert sprach der französische Physiologe Claude Bernard von einem konstanten „inneren Milieu“, wonach jeder Organismus strebt. Hierfür wurde der Begriff Homöostase geprägt.

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Stress haben“ zählt in unserer Gesellschaft fast zum guten Ton. Doch was passiert dann eigentlich im Organismus? Aufgrund der Offenheit aller lebenden Systeme ist ihre innere Ordnung störanfällig für Änderungen der Außenwelt. Ihr Ziel ist es daher, die Sollwerte der physiologischen Systeme durch permanente Anpassungsprozesse einzuhalten. Dies geschieht durch endokrine sowie durch autonom-nervöse Steuerungsvorgänge, bei denen Ist- und Sollwerte verglichen und bei Abweichungen korrigiert werden. Die homöostatische Selbstregulierung kann allerdings nur dann funktionieren, wenn die äußeren Lebensbedingungen weitgehend konstant bleiben.

Durch plötzliche Störungen in der Umwelt treten unter Umständen große Ist-Soll-Diskrepanzen ein und rufen eine Stressreaktion hervor. Aus biologischer Sicht handelt es sich bei Stress um einen psychophysischen Zustand, durch den der Organismus aus dem Gleichgewicht gerät. Innerhalb kürzester Zeit wird er optimal darauf vorbereitet, einer drohenden Gefahr durch Flucht oder Kampf zu begegnen. Daher kommt es zu Aktivierung der Atmung, des Herz-Kreislauf- Systems, der Muskulatur und der Energiebereitstellung, während reproduktive und regenerative Prozesse (Verdauung, Sexualität, Fortpflanzung und Energiespeicherung) herunterfahren.

Verschiedene Stress-Achsen Die Stressreaktion wird über zwei unterschiedliche Systeme physiologisch vermittelt: Sympathikus-Nebennierenmark-Achse (Katecholamin-System) Bei physischen oder emotionalen Reizen erhält das Nebennierenmark vom Sympathikus, einem Teil des vegetativen Nervensystems, Impulse zur Freisetzung von Adrenalin. Der dafür verantwortliche Transmitter ist Noradrenalin, welches aus dem Locus coeruleus, einem Zellkerngebiet im Übergang zwischen Gehirn und Rückenmark, stammt. Daraufhin steigt die Menge von Adrenalin im Blut, was zur Folge hat, dass Puls, Blutdruck, Blutzuckerspiegel sowie die Durchblutung von Hirn, Herz und Muskulatur zunehmen.

Die eintretenden körperlichen Stressreaktionen betreffen:

  • die Atmung: Es kommt zu einer Erweiterung der Bronchien und somit zu einer verbesserten Sauerstoffversorgung. 
  • das Herz-Kreislauf-System: Die Herzschlagfrequenz und die Kontraktion des Herzens nehmen zu, sodass die Durchblutung und die Energieversorgung von Herz, Gehirn und Muskulatur gewährleistet werden.
  • die Motorik: Durch eine erhöhte Anspannung der Muskeln wird der Körper auf die anstehende Muskelarbeit vorbereitet.
  • den Stoffwechsel: Vorgänge wie die Glukoneogenese oder die Lipolyse sorgen für eine erhöhte Energiebereitstellung.
  • das Immunsystem: Immunreaktionen werden in dieser Situation unterdrückt (Immunsuppression).
  • die Sexualität: Der Organismus ist auf sexuelle Reize in der Regel vermindert ansprechbar.

Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden- Achse (Kortisolsystem) Bei Stress setzt der Hypothalamus den Corticotropin-Releasing-Factor (CRF) frei, dieser gelangt im weiteren Verlauf zur Hypophyse. Dort stimuliert CRF die Sekretion des adenocorticotropen Hormons (ACTH), das wiederum die Nebennierenrinde zur Ausschüttung von Kortisol anregt.

Chronifizierung vermeiden Eine phasische Aktivierung der beschriebenen körperlichen Prozesse ist per se nicht gesundheitsschädlich. Problematisch wird es, wenn die in der Gluoneogenese und Lipolyse bereitgestellte Energie nicht verbraucht wird und die Erregung bestehen bleibt. Die Fettpartikel zirkulieren dann in den Arterien, begünstigen die Plaquebildung an den Gefäßinnenwänden und fördern auf Dauer arteriosklerotische Gefäßveränderungen.

Vielfalt an Symptomen Der Mediziner Hans Selye sprach vom positiven Eustress und vom gesundheitsgefährdenden Disstress. Er ging davon aus, dass sich der Organismus bei andauerndem Stress in einem Widerstandsstadium befindet und sich an die Belastungen anpasst. Die Symptome der sympathischen Achse verschwinden und es kommt zu einer Sollwert-Verschiebung. Das Ziel des Körpers besteht nun darin, unter einem erheblichen Energieaufwand ein neues Gleichgewicht auf einem erhöhten Niveau zu finden. Mögliche pathologische Folgen sind unter anderem essenzielle Hypertonie, Kopf- und Rückenschmerzen, Verlust der Libido, Impotenz, Zyklusstörungen, Arteriosklerose, Störungen der Verdauung, Infektionserkrankungen, Allergien, ein erhöhter Blutzuckerspiegel oder eine verminderte Schmerztoleranz. Häufig lassen sich in Belastungssituationen vermehrt gesundheitsschädliche Verhaltensweisen (wie Rauchen, Alkoholkonsum oder ein ungesundes Ernährungsverhalten) als Versuch der Bewältigung beobachten, wodurch das Erkrankungsrisiko zusätzlich gefördert wird.

Verschiedene Auslöser Faktoren, welche die Homöostase gefährden, bezeichnet man als Stressoren. Hierzu zählen physikalische (Lärm, Hitze), chemische (Vergiftungen) und kör- perliche (Schmerz, Verletzung) Einflüsse. Häufige Ursachen einer Stressreaktion sind psychosoziale Konflikte, die Un- erreichbarkeit von Zielen, die Unerfüllbarkeit von Wünschen sowie ein permanenter Informationsüberschuss. Auch kritische Lebensereignisse wie zum Beispiel der Tod des Partners, Scheidungen, Krankheiten oder der Arbeitsplatzverlust sind den potenziellen Stressoren zuzuordnen. Deren negative Wirkung hängt jedoch mit der Wahrnehmung, Verarbeitung und Bewertung des betroffenen Menschen ab.

Bewertung und Bewältigung Zur Entstehung von Stress gibt es verschiedene Erklärungsmodelle. Ein physiologisches Stresskonzept stammt von dem amerikanischen Emotionsforscher Richard Lazarus. In seinem sogenannten Transaktionalen Stressmodell geht er davon aus, dass Menschen den Stressoren nicht passiv ausgeliefert sind, sondern einen aktiven Einfluss in Form von Gedanken oder Wahrnehmungen haben. Im Rahmen der primären Bewertung wird die aktuelle Situation als positiv, irrelevant oder stressbezogen (Herausforderung, bereits eingetretene Schädigung oder Bedrohung) eingestuft. Die Sekundärbewertung bezieht sich auf die eigenen Bewältigungskompetenzen im Umgang mit der jeweiligen Anforderung, die als günstig oder als nicht ausreichend eingeschätzt werden.

Aufgrund von Hinweisen kann es zu Änderungen der ursprünglich primären oder sekundären Bewertung kommen (Neubewertung). Wie sich Belastungen auf den Organismus auswirken, hängt also nicht nur von den Ereignissen, sondern auch von deren Bewältigung (Coping) ab. Von einer problemorientierten Bewältigung spricht man, wenn das Individuum versucht, die Situation oder die eigenen Einstellungen zu beeinflussen. Hingegen möchten Betroffene bei der emotionsorientierten Bewältigung Gefühle wie Angst, Kränkung, Schuld oder Neid und die daraus resultierenden Spannungen reduzieren.

Prophylaxe möglich In Deutschland nehmen Stressbewältigungsprogramme nach Maßnahmen zur Prävention von Erkrankungen des Bewegungs- und Stützapparates (Rückenschulen) den zweiten Platz in der Statistik der Gesundheitsförderung ein. Programmziele sind etwa die Veränderung der stressinduzierenden Bewertungen der Situation und der eigenen Bewältigungsmöglichkeiten sowie die Erweiterung des Repertoires an Bewältigungsstrategien (Entspannungstraining, Genusstraining oder Problemlösetraining). 

Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 05/17 ab Seite 78. 

Martina Görz, PTA und Fachjournalistin

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