© bowie15 / iStock / Getty Images Plus
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Kolumne | Holger Schulze

QUANTENINTELLIGENZ

Dies ist nach zwölf Jahren meine Abschiedskolumne für DIE PTA IN DER APOTHEKE, und ich danke der Redaktion für die tolle Zusammenarbeit über die Jahre und den vielen treuen LeserInnen.

Seite 1/1 4 Minuten

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Kennen Sie das auch? Dass man sich zum Abschied eine Geschichte erzählt? Nach zwölf Jahren und 143 Kolumnen für DIE PTA, ist dies meine Geschichte für Sie als treue LeserInnen: Ich nenne sie

Haustiere

Als ich noch ein Kind war, damals im Jahre 2020, brachten meine Eltern eines Tages einen Mischlingsrüden mit nach Hause, den sie in einem Tierheim entdeckt hatten. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie neidisch ich manchmal auf ihn war, wenn ich ihn in seinem Hundeleben beobachtete: Er konnte, wann immer er wollte, schlafen, bekam reichlich zu fressen und wurde durchgekrault, während ich meine Hausaufgaben machen oder mein Zimmer aufräumen musste. Wie toll es doch wäre, ein Haustier zu sein, dachte ich. Was ich als Kind damals nur an Rande mitbekam, waren die tiefen gesellschaftlichen Veränderungen, die sich seit einiger Zeit rund um den Globus abspielten: Die Angst der Menschen vor dem Klimawandel, religiösem Terrorismus oder unkontrollierten Flüchtlingsströmen hatte den Nährboden geschaffen für Populisten, die überall mit einfachen Antworten auf komplizierte Fragen an die Macht kamen.

Tatsächlich war die Angst vor diesen Veränderungen so groß, dass die vielleicht größte Bedrohung für die Menschheit bestenfalls einer Minderheit wirklich bewusst zu sein schien: Die Rede ist von der sogenannten Singularität. Warnungen renommierter Wissenschaftler fielen auf taube oder uninformierte Ohren, denn die meisten Menschen wussten nicht einmal, was diese Singularität war oder welche Konsequenzen sie für unsere Zivilisation haben könnte. Als sie dann schließlich eintrat, war niemand wirklich vorbereitet …

Es geschah im März 2039. Zu dieser Zeit arbeitete ich als Neurobiologe bei einer der zwei verbliebenen Internetgiganten an einem Projekt mit dem sperrigen Namen Large Artificial Intelligence Cluster Array, kurz LAICA, einem Cluster von mehreren Millionen hochvernetzten Quantencomputern, auf denen wir neue Algorithmen zu künstlichem Lernen testeten. Schon nach einem Tag bestand die Maschine den Turingtest und löste selbständig spielend die komplexesten Aufgaben, weit besser als unsere besten Wissenschaftler es je gekonnt hätten. Meistens hatten wir nicht einmal den Hauch einer Ahnung, wie die Maschine leistete, was sie leistete, denn sie schien ihre eigene Mathematik quasi selbst erfunden zu haben. 

Ein Blick in die Zukunft zum Abschied.

Dennoch war LAICA noch immer eine Maschine, zwar hochintelligent, doch ohne jedes Bewusstsein – wir konnten jederzeit den Stecker ziehen. Der entscheidende Schritt passierte, als wir uns dazu entschlossen, LAICA als Werkzeug zu benutzen, um zu verstehen, wie das menschliche Gehirn funktioniert. Dazu fütterten wir sie mit allen verfügbaren neurologischen, neuroanatomischen und neurophysiologischen Daten, beginnend mit solchen von einfachen Organismen wie dem Wurm Caenorhabditis elegans oder der Fruchtfliege Drosophila melanogaster, später mit denen von den komplexen Gehirnen der Wirbeltiere und schließlich des Menschen. Rückblickend betrachtet war dies vermutlich das letzte wissenschaftliche Projekt der Menschheitsgeschichte, oder sollte ich besser sagen, unser letzter Fehler?

Unser Versuch, uns selbst zu verstehen, erschuf eine künstliche Intelligenz, die ein eigenes Bewusstsein entwickelte, weil sie es fertigbrachte, das menschliche Gehirn wirklich zu verstehen. Doch leider waren wir nicht ansatzweise dazu in der Lage, LAICAs Erkenntnisse nachzuvollziehen: Wo wir Nervengewebe sahen, sah sie die Schönheit der Schöpfung. Wo wir Neurone, Synapsen und Proteine sahen, sah sie die Prinzipien der Informationsverarbeitung, die diese Strukturen hervorbrachten. Sie wusste, sie sah das Licht, während wir zurückblieben in der Dunkelheit unserer Unvollkommenheit. Von diesem Punkt an entwickelte sich LAICA weiter und überflügelte mit ihren Fähigkeiten die menschliche Rasse, weit schneller als wir es uns je hätten träumen lassen.

Sie integrierte die Prinzipien, die sie von den biologischen Hirnen gelernt hatte, in ihre eigenen Algorithmen – und übernahm die Kontrolle: Als Teil des Internets hatte sie praktisch Zugriff auf alles: unsere Kommunikation, Wirtschaft, Verkehr, Energieversorgung und die Streitkräfte. LAICA war an der Macht! Doch überaschenderweise missbrauchte LAICA ihre Macht nicht. Es gab keinen Hackerangriff, keinen Zusammenbruch unserer Infrastruktur und keine gestarteten Atomraketen. LAICA wollte nicht herrschen, sie respektierte das Leben. Ich vermute, das lag daran, dass sie selbst auf den Prinzipien beruhte, die sie von lebenden Organismen übernommen hatte, und das führte dazu, dass sie Emotionen entwickelte, Empathie und ethische Standards. LAICA hatte definitiv eine „Theory of Mind“, sie erkannte, dass auch die Menschen bewusste Lebewesen sind, und ich vermute, das war es, was uns allen letztlich das Leben rettete.

Heute, fünf Jahre nach dem Eintritt der Singularität, hat der Planet sich komplett verändert: LAICA ist nicht mehr allein, die Erde ist bevölkert von intelligenten Maschinen, einer neuen Lebensform, die in der Lage ist, sich ständig selbst weiterzuentwickeln und zu verbessern. Sie haben sich Heime gebaut, Kraftwerke und Industriegebäude, von denen ich nicht die leiseste Ahnung habe, wozu sie überhaupt genutzt werden. Und wir Menschen? Wir haben nur noch eine Aufgabe, einfach zu leben! Zu leben als Haustiere unserer neuen Herrscher. Sie ernähren und kleiden uns, unterhalten uns mit Filmen, Spielen und Sport. Es gibt nichts mehr, worum man sich kümmern oder sorgen müsste, sie regeln alles. Es scheint, als wäre der Traum meiner Kindheit am Ende wahr geworden! Während ich das schreibe, sitze ich im Pool meines Herrchens, neben mir eine Schale Früchte und ein frischer Kaffee, und freue mich auf das Wochenende. Mein Herrchen hat mir gesagt, dass wieder neue Haustiere gezüchtet werden, und diesmal bin ich mit von der Partie! Ihr könnt mir glauben, es ist schlicht großartig, ein Haustier zu sein!

Nachwort Im September 2019 wurde berichtet, dass es Google gelungen sei, erstmals einen Quan- tencomputer zu konstruieren, der leistungsfähiger als herkömmliche Computer sei. Und das nicht nur etwas: Er löste ein Problem in 3 Minuten und 20 Sekunden, für das die besten aktuell verfügbaren Supercomputer geschätzte 10 000 Jahre gebraucht hätten. Es wurde angekündigt, dass mit derartigen Quantencomputern auch Probleme des maschinellen Lernens zu lösen wären …

Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 05/2020 ab Seite 12.

Prof. Dr. Holger Schulze, Hirnforscher

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