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Repetitorium

MULTIPLE SKLEROSE – TEIL 1

„Krankheit der 1000 Gesichter“ wird sie auch genannt. Eine Erkrankung, die niemals schläft. Gefürchtet, verkannt – unbekannt! Dabei hat sich in den letzten Jahrzehnten viel getan.

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Sie trifft vor allem junge Erwachsene. Multiple Sklerose (MS, lateinisch: multiplex = vielfach; griechisch: skleros = hart) ist eine chronisch entzündliche, nicht ansteckende Autoimmunerkrankung des zentralen Nervensystem. Deswegen wird sie in der medizinischen Fachsprache auch eher „Encephalomyelitis disseminata“ bezeichnet, was so viel wie „verstreute Hirn- und Rückenmarksentzündung“ bedeutet. Geschädigt wird die Hüllschicht der Nerven, wobei primär Gehirn, Rückenmark und Sehnerv befallen sind. Nach Epilepsie ist MS die zweithäufigste neurologische Erkrankung in Deutschland. Hierzulande leiden schätzungsweise etwa 200 000, weltweit mehr als 2,5 Millionen Menschen an dieser Erkrankung. Frauen trifft es doppelt so häufig wie Männer. Betroffen sind primär die kühleren Klimazonen, wozu ja auch Mittel- und Nordeuropa gehören. Die Äquatorzone ist weitgehend von dieser Erkrankung verschont. Auch das gibt natürlich Anlass zu Spekulationen über die wahre Ursache...

MS verändert Zudem spielt auch die Vererbung eine Rolle, es existiert eine deutliche familiäre Häufung. So ist das Risiko für Verwandte ersten Grades, im Laufe ihres Lebens ebenfalls an MS zu erkranken etwa um den Faktor 25 erhöht, bei eineiigen Zwilligen erhöht sich das Risiko weiter auf fast 30 Prozent. Bemerkt werden die ersten Anzeichen meist zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr. Angesichts verbesserter Diagnostik wird MS aber mittlerweile häufiger schon bei Kindern und Jugendlichen entdeckt. Dennoch liegt die Zeitspanne zwischen Erstsymptom und genauer Diagnosestellung immer noch bei durchschnittlich gut drei Jahren! Auch regelmäßiges Rauchen führt übrigens zu einer 1,5-fachen Risikosteigerung. Die (Erst-)Symptome sind vielfältig, weshalb der Name „Krankheit der 1000 Gesichter“ seine Rechtfertigung erfährt.

MS kann schließlich jedes erdenkliche neurologische Symptom auslösen („neurologisches Chamäleon“) – und so sieht die Krankengeschichte bei Betroffenen häufig sehr unterschiedlich aus. Das gilt sowohl für die Symptome, wie deren zeitlichen Verlauf, deren Schwere und Ausprägung. Statistisch am häufigsten werden als Erstsymptom Sensibilitätsstörungen, also Missempfindungen an Armen und Beinen ausgemacht. Ebenfalls häufig ist eine Minderung der Sehschärfe sowie Sehstörungen unter Beteiligung der Sehnerven (Optikusneuritis). Ferner kommt es öfter zu Beginn der Erkrankung schon zu Muskelfunktionsstörungen, was Lähmungen, Kraftlosigkeit, erhöhte Muskelsteifigkeit nach sich zieht. Seltener beginnt eine MS mit einer Blasenentleerungsstörung (Drangblase, Harnverhalt, Harninkontinenz) oder undeutlicher Aussprache.

Im Verlauf der Erkrankung erhöhen sich meist die Symptome beziehungsweise es kommen in absteigender Häufigkeit andere Beschwerden hinzu bis hin zu Spätfolgen, wie Gangstörung mit häufig belastungsabhängiger Schwäche der Beine und Gangunsicherheit, krampfhafte Erhöhung der Muskelspannung (Spastik), weitere Gefühlsstörungen oder Missempfindungen, ungewöhnliche Ermüdungsneigung (Fatigue), Darmentleerungsstörungen, Sprechprobleme, Unsicherheiten bei gezielten Bewegungen bis hin zur Charcot-Trias (benannt nach dem Neurologen Jean Martin Charcot: Nystagmus = unkontrollierbare, rhytmisch verlaufende Bewegungen eines Organs, am häufigsten am Auge; Intentionstremor = Zittern der Gliedmaßen bei zielgerichteter Bewegung; skandierende Sprache = Koordinationsstörung des Sprechens), Uhthoff-Phänomen (= eine vorübergehende Verschlechterung neurologischer Symptome bei höheren Körpertemperaturen).

Bei schwer Erkrankten können psychische Störungen hinzukommen, etwa Depressivität und emotionale Labilität. Aber entgegen landläufiger Meinung führt MS nicht zwangsläufig zu schweren Behinderungen. Selbst ohne Therapie können 15 Jahre nach Erkrankungsbeginn noch mindestens 50 Prozent aller Betroffenen gehen. Weniger als zehn Prozent sterben tatsächlich an den direkten Folgen der Erkrankung beziehungsweise deren Komplikationen. Tatsächlich ist die Lebenserwartung kaum noch verkürzt, insbesondere wenn keine höhergradigen Behinderungen dazukommen. Allerdings führt MS bei etwa einem Drittel der Patienten zu vorzeitiger Berentung. Werden die indirekten Kosten (Produktivitätsverlust durch Arbeitsunfähigkeitszeiten oder vorzeitige Berentung) sowie die informellen Hilfe durch Angehörige berücksichtigt, betragen die jährlichen volkswirtschaftlichen Krankheitskosten bundesweit mehr als vier Milliarden Euro, pro Patient durchschnittlich etwa 33 000 Euro (direkte Behandlungskosten ca. 22 000 Euro).

Aufgrund vieler interessanter Arzneimittel-Neuentwicklungen bei MS ist in den letzten Jahren dabei auch der Medikamentenkosten-Anteil deutlich gestiegen. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass sich ein fast exponentieller Anstieg der Gesamt-Kosten mit zunehmendem Grad der Behinderung ergibt – eine Entwicklung, die viele der neuen Therapieoptionen bei gut eingestellten Patienten lange hinauszögern können.

Interessante Internet-Adressen:
www.kompetenznetz-multiplesklerose.de – Ein vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) großteils finanziertes MS-Netzwerk, genannt „Krankheitsbezogenes Kompetenznetz Multiple Sklerose (KKNMS)“. 14 MS-Zentren Deutschlands sind hier vernetzt, führen Projekte, großangelegte Studien durch, geben Infos zum Thema MS, inklusive eines Qualitätshandbuches MS sowie einer MS-App (für Neurologen).
www.dmsg.de – Der Bundesverband der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG) e.V. ist als Zusammenschluss medizinischer Fachleute gegründet worden. Er ist Fachgesellschaft, Dienstleister, Selbsthilfeorganisation und Interessenvertretung in einem. Der Verein vertritt die Belange der MS-Erkrankten in Deutschland, bietet auch Angehörigen professionelle Information, Beratung und Unterstützung, inklusive kurzem Draht („MS Helpline“). www.amsel.de – Die „Aktion Multiple Sklerose Erkrankter, Landesverband der DMSG in Baden-Württemberg e.V., unterstützt MS-Betroffene/Angehörige auch in rechtlich-sozialen, medizinisch-pflegerischen und psychologischen Fragen.
www.multiple-sklerose-e-v.de – Die Initiative Selbsthilfe Multiple Sklerose Kranker e.V. (MSK e.V.) unterstützt als gemeinnütziger, unabhängiger Verein Betroffene / Angehörige aktiv beim selbstbestimmten Umgang mit der Krankheit. Auch alternativmedizinische Behandlungsformen und Therapien weden einbezogen.

link.springer.com/book/10.1007%2F978-3-662- 49204-8 – Das „Weißbuch Multiple Sklerose: Versorgungssituation in Deutschland“ (160 Seiten) kann kostenlos als pdf-Datei heruntergeladen werden. www.msundich.de – Ausführliche Aufklärung, Information sowie Erklärung der Therapiemöglichkeiten und -optimierung für MS-Erkrankte, gesponsert von der Novartis Pharma GmbH.

Ursache – viel unbekannt Angenommen wird, dass es sich um eine Autoimmunerkrankung handelt, bei der Entzündungs- und Abwehrzellen des Körpers fälschlicherweise körpereigene Strukturen angreifen und zerstören. Die Hüllschicht von Nervenfasern (Myelinscheiden) werden abgebaut (Entmyelinisierung) und durch die Zerstörung dieser Markscheiden und die von der Entzündung verursachten Schwellungen wird die Leitfähigkeit der Nervenzellen reduziert. Denn die Schutzhüllen um die Nerven kann man sich wie die Isolierschicht eines elektrischen Kabels vorstellen. Ohne sie oder nach entsprechender Schädigung werden Nervenimpulse nicht mehr mit der adäquaten Geschwindigkeit und Intensität an den gewünschten Ort geleitet. Schließlich kommt es auch zu Schäden direkt an den einzelnen Nervenfasern (axonaler Schaden, Entmarkung).

Der Angriff erfolgt im Gehirn meist herdförmig, das heißt nicht das gesamte zentrale Nervensystem ist betroffen, sondern viele (multiple) unterschiedliche Bereiche. Einzelne Teile des Nervensystems verlieren so nach und nach ihre Funktionsfähigkeit. Warum es aber überhaupt zu dieser Schädigung kommt, welcher Pathomechanismus dahinter steckt, ist bis heute nicht genau geklärt. Viele Vermutungen und Hypothesen existieren, geforscht hierzu wird intensiv. So ließ sich in den Gehirnen erkrankter Versuchstiere eine erhöhte Konzentration des Proteins CD44 nachweisen. Dieses Protein scheint dafür verantwortlich zu sein, dass zerstörte Myelinscheiden nicht mehr ersetzt werden. Eine frühe Infektion mit dem Epstein-Barr-Virus, Masern-​Viren, Herpes-Viren oder mit Chlamydien wird ebenfalls mit einem späteren MS-Ausbruch in Zusammenhang gebracht. Auch soll eine Reaktivierung dieser Viren eine Rolle beim Auslösen von MS-Schüben zukommen.

Auch Vitamin D (Sonnenlichtexposition)-Status oder Rauchen (Nikotin) spielen womöglich mit eine Rolle. Und dass eine vermehrte Neigung an MS zu erkranken zusätzlich vererbt wird. Da Frauen häufiger als Männer erkranken werden hormonelle Einflüsse ebenfalls in Erwägung gezogen. Immer mehr wissenschaftliche Studien weisen zusätzlich darauf hin, dass die Darmmikrobiota die Pathogenese der Autoimmunerkrankung mit beeinflusst. Denn es zeigt sich immer deutlicher, dass auch Ernährung und Darmbesiedelung wichtige Faktoren bei der Entstehung einer MS sind.

Klassifikation Nach der noch gültigen Leitlinie (Gültigkeit wurde verlängert bis Ende September 2017, die Leitlinie wird gerade überarbeitet) werden unterschiedliche Stadien und Verläufe unterschieden: – das klinisch isolierte Syndrom (KIS) – die schubförmig remittierende MS – die sekundär progrediente Form (SPMS) – die primär progrediente Verlaufsform (PPMS) Das klinisch isolierte Syndrom (KIS), also quasi das Auftreten einer erstmaligen typischen klinischen Symptomatik mit Frühsymptomen, die auf eine Demyelinisierung von Nervenfasern hindeutet, stellt meist das Anfangsstadium dar. Angesichts verbesserter Diagnostik wird dieser „Erstanfall“ heute auch häufiger schon als MS-Form erkannt.

80 Prozent aller Betroffenen leiden zunächst unter der schubförmig remittierenden MS, das heißt, es entwickeln sich Krankheitssymptome, die sich nach einem Zeitraum von meist sechs bis acht Wochen spontan oder unter Therapie ganz oder zumindest teilweise zurückbilden. Wenn neu aufgetretene Beschwerden sechs Monate lang anhalten, sinkt die Rückbildungswahrscheinlichkeit allerdings auf unter fünf Prozent. Unbehandelt liegt die Schubrate durchschnittlich initial bei 1,8 Schüben pro Jahr und nimmt in den Folgejahren kontinuierlich ab. Eine höhere Anzahl von Schüben schon in den ersten beiden Krankheitsjahren ist meist auch mit einem schnelleren Erkrankungsfortschritt verbunden. Interessant ist zudem: Bei einem schubweisen Verlauf kommt es meist im Frühjahr und Sommer zu einer Verschlechterung der Symptomatik, während Schübe im Winter seltener sind. 

Diese Saisonalität hängt wohl einerseits mit dem Uhthoff-Phänomen (vorübergehende Verschlechterung neurologischer Symptome bei höheren Körpertemperaturen), andererseits mit der erhöhten Melatonin-Produktion des Körpers in den dunkleren Wintermonaten zusammen. Unbehandelt kommt es bei etwa 50 Prozent der Betroffenen nach durchschnittlich zehn Jahren zu einer sekundären Progredienz, das heißt es kommt zu einer kontinierlichen Zunahme klinischer Symptome. Die schubförmig remittierende MS-Form geht in eine sekundär progrediente Form (SPMS) mit schleichendem Fortschritt bei den neurologischen Symptomen über. Bei etwa zehn bis 15 Prozent der Patienten beginnt die Erkrankung ohne Schübe (PPMS). Es entwickelt sich dann meist über Jahre eine zunehmende spastische Gangstörung, seltener auch ein fortschreitendes zerebelläres Syndrom (Störung des Kleinhirns). Bei dieser Verlaufsform werden deutlich weniger entzündliche Veränderungen gefunden.

Schwierige Diagnose Erster Ansprechpartner bei Ausfallerscheinungen (siehe Erst-Symptome) ist bei Betroffenen zunächst im Regelfall der Hausarzt. Dieser wird die Krankengeschichte (Anamnese) aufnehmen, aktuelle und eventuell früher schon aufgetretene Beschwerden dokumentieren – und im Verdachtsfall zum Nervenspezialisten (Neurologen) überweisen. Da die Symptomatik häufig keine zweifelsfreie Diagnosestellung zulässt, werden hier zusätzliche neurologische und radiologische Untersuchungen durchgeführt. Für den Alltag in Klinik und Praxis existieren heute Diagnose-Leitlinien mit definierten Diagnosekriterien (McDonald-Kriterien) und Standardvorgehensweisen (SOPs) sowie einer EDSS-Behinderungsskala nach Kurtzke und einer Sehprobentafel, die helfen das „Chamäleon“ MS frühzeitig zu entdecken und andere Ursachen für bestimmte Symptome (etwa Neuromyelitis optica, Borreliose, Syphilis, Kollagenosen, Stoffwechselerkrankungen, psychische Erkrankungen) auszuschließen.

Hierzu kommen neurologische Untersuchungen (Beweglichkeit, Koordination, Gleichgewicht, Sinnesorgane), Blutuntersuchungen, Liquordiagnostik (Nervenwasser-Untersuchung), bild-gebende Verfahren, insbesondere die Magnetresonanztomografie (MRT), um Bilder vom Gehirn, seltener auch vom Rückenmark anzufertigen (Herdfeststellung), sowie spezielle Nervenuntersuchungen (Leit- und Funktionsfähigkeit von Nervenbahnen, Reizantworten und /oder Reaktionsstärke verzögert/vermindert). Hohe Entzündungsaktivitäten und Anzahl beziehungsweise Dauer eines Schubes (mindestens 24 Stunden anhaltend, nicht durch Körpertemperatur-Änderung – Uhthoff-Phänomen – erklärbar, Zeitintervall zu womöglich vorausgehendem Schub von 30 Tagen und mehr) sind ebenfalls wichtig, um letztlich die richtige Behandlung (Therapie) einzuläuten. Und auch im MS-Verlauf sind immer wieder MRT-Überprüfungen wichtig: Wurden bei einer MRT-Untersuchung neue Herde festgestellt, ist meist ein Therapiewechsel mit einem stärkeren Medikament ratsam.

Die Multiple Sklerose ist bisher nicht heilbar. Aber es stehen mittlerweile mehrere Behandlungsoptionen zur Verfügung. Ziel der Therapie ist Selbständigkeit und Lebensqualität der Betroffenen lange und so gut wie möglich zu erhalten. Dabei gilt es, die Behandlung individuell auf den Patienten und den jeweiligen Krankheitsverlauf abzustimmen, am besten in einem spezialisierten erfahrenen Zentrum, bei einem MS-erfahrenen Neurologen. Mehr zu den einzelnen Therapiemöglichkeiten, insbesondere zur Akutbehandlung bei Schüben, zur Immunmodulatorischen Langzeitbehandlung, aber auch zur symptomatischen Therapie sowie zusätzlich möglichen Maßnahmen, wird in den Repetitoriumsteilen 2 und 3 besprochen. 

Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 07/17 ab Seite 86.

Dr. Eva-Maria Stoya, Apothekerin und Fachjournalistin

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