Nachdenklicher Mann © bowie15 / iStock / Thinkstock

Kolumne | Holger Schulze

JAMMERN AUF HOHEM NIVEAU

Um uns in der Welt zurechtzufinden, teilen wir die Dinge um uns herum ein in hell oder dunkel, gut oder böse. Doch diese Kategorien sind veränderbar.

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Reduziert man aber drastisch die Zahl der blauen Punkte, so werden auf einmal mehr Punkte als blau klassifiziert als wirklich da sind! Das gleiche funktioniert mit Gesichtsausdrücken: Wird die Zahl der bedrohlich aussehenden Gesichter reduziert, werden auf einmal auch solche als bedrohlich bewertet, die vorher eher neutral eingeschätzt wurden. Auch ethische Bewertungen unterliegen dieser Anpassung an die Häufigkeit des Auftretens bestimmter Ereignisse. Besonders verblüffend dabei ist, dass der Effekt auch dann auftritt, wenn die Testpersonen genau über die Veränderungen dieser Häufigkeiten informiert werden, ja sogar dann noch, wenn man ihnen Geld dafür bietet, wenn sie sich davon nicht beeinflussen lassen!

Das Gehirn passt sein Bewertungsraster dennoch an, und man kann willentlich nichts dagegen tun! Evolutiv war dies sicherlich eine sinnvolle Anpassung: Die einzelnen Dinge relativ zur Verteilung ihrer Gesamtheit zu bewerten. In unseren modernen Gesellschaften erscheint dieser Mechanismus aber nur noch bedingt sinnvoll, denn er führt dazu, dass wir schon nach kurzer Zeit nicht mehr in der Lage sind, soziale Errungenschaften, sinkende Kriminalität oder verbesserte Umweltbedingungen als solche zu schätzen, sondern im Gegenteil Zustände, die wir uns vor wenigen Jahren noch herbeigesehnt hätten, heute negativ bewerten und denken, die Welt wird immer schlechter. Als ich noch zur Schule ging, war eine Aggression auf dem Schulhof noch eine handfeste Schlägerei, heute kann es schon ein falscher Blick sein. Wenn man so darüber nachdenkt, leben wir eigentlich bereits im Paradies, jedenfalls aus dem Blickwinkel der Vergangenheit, finden Sie nicht auch?

Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 09/18 auf Seite 12.

Zur Person

Prof. Dr. Schulze Hirnforscher
Holger.Schulze@uk-erlangen.de 

Prof. Dr. Schulze ist Leiter des Forschungslabors der HNO-Klinik der Universität Erlangen-Nürnberg sowie auswärtiges wissenschaftliches Mitglied des Leibniz-Instituts für Neurobiologie in Magdeburg. Seine Untersuchungen zielen auf ein Verständnis der Neurobiologie des Lernens und Hörens.

www.schulze-holger.de

Kennen Sie das auch? Das ewige Lamentieren von Leuten, die meinen, die Welt werde immer schlechter? Dabei ist das oft gar nicht mal nur so daher gesagt, sondern ein konkretes Gefühl der Verschlechterung der eigenen Lebensbedingungen. Selbst dann, wenn dies objektiv betrachtet gar nicht zutrifft. Ich wundere mich zum Beispiel immer darüber, wenn in meiner Stadt von sozialen Brennpunkten gesprochen wird, denn nach meinem Empfinden gibt es hier so etwas wie echte soziale Probleme gar nicht. Aber vermutlich liegt das daran, dass ich auch schon einmal woanders gelebt habe, wo das soziale Gefüge deutlich angespannter und die Unterschiede größer waren.

Aber der Mensch beziehungsweise sein Gehirn bewertet die Dinge eben grundsätzlich nicht objektiv, sondern subjektiv. Und nicht nur das: Diese subjektive Einschätzung der Welt um uns herum ist nicht starr, sondern verändert sich, wenn sich die Welt verändert: Das Gehirn passt seine Bewertungskriterien also fortlaufend an die aktuellen Gegebenheiten an. Dies gilt sowohl für einfache sensorische Wahrnehmungen wie auch für soziale oder ethische Konzepte. Zeigt man Probanden zum Beispiel Punktraster mit verschiedenen Farben zwischen lila und blau in (nach physikalischen Kriterien) gleichmäßiger Verteilung, so werden die Testpersonen gleich viele Punkte als blau beziehungsweise lila bewerten.

Was heute gut ist, kann morgen schlecht sein!

»Was heute gut ist, kann morgen schlecht sein!«

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