Wenn Geräusche zur Bedrohung werden

HYPERAKUSIS

Die Schall- oder Geräuschüberempfindlichkeit, bei der viele Töne als zu laut und unangenehm wahrgenommen werden, ist oft mit einem erheblichen Leidensdruck für die Betroffenen verbunden.

Seite 1/1 3 Minuten

Seite 1/1 3 Minuten

Wenn bereits „normale” Geräusche wie etwa Geschirrklappern subjektiv stark beeinträchtigen und lautere Geräusche sogar körperliche Schreckreaktionen wie Blutdruckanstieg, Pulserhöhung oder Schweißausbrüche hervorrufen, spricht man von einer Geräuschüberempfindlichkeit oder Hyperakusis.

Bereits mäßig laute Schalldruckpegel von 50 bis 60 dB führen bei den Betroffenen zu einer übersteigerten und unangenehmen Hörempfindung; ihre „Unbehaglichkeitsschwelle” in der audiometrischen Untersuchung ist herabgesetzt.

Vielfältige Ursachen Die gesteigerte Lärmwahrnehmung kann beispielsweise als Folge chronischer Lärmschädigung des Innenohrs oder nach einem akuten Schalltrauma entstehen. Die Otosklerose, eine Verknöcherung, in deren Folge der Steigbügel unbeweglich wird, führt zur Mittelohrschwerhörigkeit. Die Knochenumbauprozesse schwächen gleichzeitig den Stapediusreflex ab. Letzterer schützt normalerweise das Innenohr vor zu hohem Schalldruck, indem er dafür sorgt, dass dieser nicht total in das Innenohr übertragen, sondern ein Teil davon am Trommelfell reflektiert wird.

Fällt diese körpereigene „Lautstärkeregulierung” aus, werden auch sehr laute Töne ungedämpft weitergeleitet – und somit von Betroffenen lauter wahrgenommen als von Gesunden. Die Operation zur Behebung dieser Form der Schwerhörigkeit hat den gleichen Effekt: Der genannte Reflex kann nicht greifen, da im Rahmen des Eingriffs der hierfür erforderliche kleine Steigbügelmuskel durchtrennt wird. Damit sind diese Operierten gegenüber starker Lärmbelastung besonders sensibel.

Im Ergebnis gleich wirkt eine Fazialisparese, die Lähmung von Gesichtsmuskeln durch eine Funktionsstörung oder Schädigung des VII. Hirnnervs, die ebenfalls den schützenden Reflex außer Kraft setzen kann. Die Hyperakusis tritt hier in den meisten Fällen jedoch angesichts der bedrohlichen anderen Beschwerden in den Hintergrund. Relativ häufig leiden auch Tinnituspatienten neben ihrem Ohrgeräusch an einer Schallüberempfindlichkeit, bis zu 40 Prozent von ihnen sind betroffen. Dass Migräneanfälle mit Überempfindlichkeit gegenüber akustischen (ebenso wie optischen oder olfaktorischen) Reizen einhergehen können, ist bekannt. Auch im Rahmen einer Multiplen Sklerose kann eine abnorme Geräuschwahrnehmung auftreten.

Medikamenten-induzierte Hyperakusis So kann die Langzeitbehandlung mit hohen Dosen von Schleifendiuretika wie Furosemid und Etacrynsäure ototoxisch wirken, ebenso die Gabe der Zytostatika Cisplatin und Cyclophosphamid. Innenohrschädigung ist auch eine mögliche Nebenwirkung von Aminoglykosiden wie Streptomycin und Gentamycin. Das Anti-Malariamittel Chinin kann, vor allem in höherer Dosierung, Tinnitus und Hörstörungen hervorrufen. Psychopharmaka (und Drogen) können, durch den Eingriff in den zentralen Transmitterstoffwechsel, die Lautheitswahrnehmung verändern.

Zu den vielen Symptomen beim Benzodiazepinentzug gehören unter anderem Tinnitus und Hyperakusis. Es gibt aber auch Menschen, die hochgradig geräuschempfindlich sind, obwohl die einzelnen am Hörvorgang beteiligten Strukturen intakt sind. Neurophysiologisch führt man viele Fälle auf eine gestörte zentrale Verarbeitung der Hörinformationen, insbesondere eine zu schwache Hörfilterfunktion zurück.

Gehörschutz ist die falsche Antwort Sofern eine therapierbare organische Ursache vorliegt, wird primär diese behandelt. Aber auch ohne erkennbare Ursache oder wenn aufgrund irreversibler Schädigung keine kausale Therapie existiert, gibt es gute Chancen auf Abhilfe; die Patienten brauchen allerdings Geduld. Am besten empfiehlt man ihnen, sich an Tinnituszentren, besonders spezialisierte HNO-Ärzte oder dafür qualifizierte Hörgeräteakustiker zu wenden. Je mehr ein Patient sich von der lärmenden Welt zurückzieht, um so tiefer sinkt die Toleranzschwelle, mit der Folge, dass schon geringste akustische Reize als unangenehm empfunden werden.

Der Schlüssel, diesen Teufelskreis zu durchbrechen, liegt darin, dass das Gehirn die beim Gesunden ständig stattfindende Filterung der Sinneseindrücke wieder lernt: Unnötige Hintergrundgeräusche werden im Zuge der zentralen Verarbeitung normalerweise einfach „aussortiert”, sie erreichen das Bewusstsein gar nicht und lassen so Platz für wichtige Informationen.

Wichtige Reize von unwichtigen trennen Bei der Retrainingtherapie wird das Hören von Geräuschen verordnet: ein Rauschgenerator oder „Noiser” oder eine CD mit "Rauschen" sind die individuell regelbaren Schallquellen, denen sich der Patient täglich aussetzen soll, bei stufenweise höherer Lautstärke. Ziel der über Monate gehenden Behandlung: die langsame Gewöhnung (Habituation) an die normale Geräuschkulisse der Umwelt. Experten empfehlen den Patienten auch, sich der Welt des Hörens wieder langsam zu öffnen, indem sie zum Beispiel konzentriert Musik lauschen oder Schritt für Schritt versuchen, sich auch nicht so angenehmen Geräuschen auszusetzen.

Den Artikel finden Sie auch in Die PTA IN DER APOTHEKE 12/11 ab Seite 64.

Waldtraud Paukstadt, Medizinjournalistin

×