Hamster © Madhourse / iStock / Getty Images
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Bücher, von denen man spricht

HAMSTER IM HINTEREN STROMGEBIET

Er sitzt neben seiner Tochter und hilft ihr bei den Hausaufgaben, als es passiert: Joachim Meyerhoff bekommt einen Schlaganfall. 51 Jahre ist er alt – und Schauspieler, sein Beruf ist das Wort und die Bewegung.

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Im Rettungswagen denkt er: „Nicht mehr klar formulieren, keine Texte mehr memorieren zu können, wäre mein Untergang. Das war doch wie Pianistenfinger in der Kreissäge, Hörsturz bei Piloten, Achillessehnenriss bei Tänzern.“ Leider (in diesem Falle) ist Meyerhoff auch noch ein begnadeter Autor, der bereits vier Bücher über sein Leben geschrieben hat und so kann er sich in aller Deutlichkeit ausmalen, was ihn so erwarten könnte.

Zeit ist Hirn Der Krankenwagen kommt, es dauert beinahe eine Stunde, bis er in die nächste Stroke Unit eingeliefert wird, derweil geistert dem Patienten die österreichische Plakat-Kampagne „Zeit ist Hirn“ durch selbiges. Dieses zeichnet zuverlässig auf, was ihm widerfährt: Die Vehemenz, mit der seine Tochter ihn begleitet und verteidigt, die Einlieferung auf die Intensivstation, das Verkabelt-werden im Bett, die Geräusche, die Gerüche. Die erste Nacht. Joachim Meyerhoff hat so seine Fangemeinde. Mit Büchern wie „Alle Toten fliegen hoch“ oder „Die Zweisamkeit der Einzelgänger“ hat er sich in die Herzen seiner Leser geschrieben (und auch die Krankenschwestern möchten jetzt ein Autogramm von ihm) – nur dass diese Bücher von der Tragikomik des Alltags handeln. Unterhaltsam und selbstironisch schreibt er da von seiner Kindheit auf dem Gelände der Psychiatrie, deren ärztlicher Direktor sein Vater war, von den Liebeswirren der Pubertät, dem Austauschjahr im amerikanischen Westen und der Zeit auf der Münchner Schauspielschule. Alles witzig, so lange es nur ihn selbst betraf. Aber als Patient auf einer Schlaganfallstation?

Heilsame Komik Kaum zu glauben, aber es gelingt ihm. Wenn eine Tragödie nur genug Zeit bekommt, kann sie auch Humor entwickeln – um diese Schauspielerweisheit weiß Meyerhoff ganz genau. Und so werden wir Zeuge, wie sein Bettnachbar ununterbrochen um die Worte ringt, die ihm immer wieder entfallen und wie zwei in ihrer Ichbezogenheit unschlagbare Eltern ihn besuchen. Wie ein Mitpatient in schönstem Wienerisch auf dem Weg zum Klo darüber parliert, dass dieses „Schlagerl“ kein Wunder wäre bei seinem Lebenswandel, wie neben einer Frau in Agonie ungerührt das Frühstück abgefragt wird: „Semmel oder Striezel?“. Wir sind Zeuge, wie sich Meyerhoff in dieser ersten Nacht in irrationaler Weise zwingt, wachzubleiben: „Nur im Wachzustand würde ich mein Hirn kontrollieren können. Im Dämmerzustand würde es erneut durchschmoren und ich würde endgültig zerschossen werden.“

Er manövriert sich in Erinnerungen und nimmt uns mit auf seine Reise: Wie er seine Familie für eine neue Frau verließ. Eine Reise nach Norwegen, die ihm sein verbliebener Bruder zum 50. Geburtstag geschenkt hatte. Eine andere nach Afrika, die dem Asthmatiker hitzefeuchte, schreckliche Nächte und abenteuerliche Taxifahrten beschert. Und schließlich diese eine Patchworkveranstaltung nach Mallorca, die so euphorisch beginnt und mit einem „nie wieder“ endet (was allerdings an der Insel liegt). Meyerhoff hat einen Gefäßverschluss im Gehirn erlitten und dazu eine kurzzeitige linksseitige Lähmung: „Aus dem hyperaktiven Wirbel meines Lebens war ich durch einen winzigen Vorfall im Kleinhirn innerhalb einer einzigen turbulenten Stunde herausgerissen worden und in die Abgeschiedenheit einer blutverdünnenden Tropfsteinhöhle gestürzt“.

Beides wird nicht so schlimm sein und sich wieder auflösen lassen, aber das weiß er zum Zeitpunkt, an dem das Buch spielt, noch nicht. Und so nimmt er jedes Detail wahr. Die Physio- und Ergotherapie, die Untersuchungen der Neurologin, die ihm den Scan seines eigenen Gehirns zeigt. Den unbedingten Willen, seinen Körper in die Bewegung zurückzuzwingen, sodass er im Dämmerlicht aufsteht und an den Handlaufstangen im Flur Ballett-Übungen macht: „Ich stellte mich auf ein Bein und hielt dem Ansturm von Fehlinformationen in meinem Gehirn stand. Der Boden bewegte sich und versuchte, mich durch unberechenbare Erdbebenstöße umzuschubsen“. Und schließlich die „Flucht“ aus der Klinik, bei der er eine Stunde in Pyjama und Bademantel auf der Gartenbank im Außenbereich sitzt – und wilde Hamster beobachtet, die sich durch Laubhaufen bewegen. Eine Szene, die an komischer Surrealität kaum zu überbieten ist und wohl deshalb dem Buch auch seinen Namen gibt.

Meyerhoff, der erfolgsverwöhnte Burgschauspieler, muss lernen, dass er sterblich ist. „Mein Selbstbild bröckelte gewaltig. So schnell also war ich hinübergerutscht aus der Unverwüstlichkeit in die Verwüstlichkeit, aus der Unbeschwertheit in die Beschwertheit.“ Er denkt erstmals daran, eine Patientenverfügung aufzusetzen, auch ein Testament, und ihm fällt das allererste ein, das er geschrieben hatte, seine Mutter hat es für ihn aufgehoben, sieben war er da: „Im Falle meines Todes bitte nicht weihnen. Ich besieze nichts. Mein Zimmer soll kein Büro werden.“ Es spricht für die Schreibweise des Autors, sich diesen ernsten Themen mit der ihm eigenen Verve zu widmen: „Das war’s! So wollte der Legastheniker aus der Welt gehen. Keine Ahnung, warum ich damals eine feindliche Übernahme meines Kinderzimmers durch ein Büro fürchtete.“

Das Buch ist auch deswegen wertvoll, da es uns – Gesunden – den Einblick in die Funktionsweise eines schlaganfallgeschädigten Gehirns ermöglicht. Meyerhoff hat dafür sicherlich zu Recht jüngst den Bayrischen Buchpreis erhalten; allerdings hat er auch davor schon für jedes seiner Bücher einen Preis bekommen. Als sich der Patient, übermütig geworden, nach acht Tagen im Krankenhaus schon auf der Überholspur wähnt, verliert er plötzlich nach einem Spaziergang die Orientierung. Er findet den Weg zurück nicht mehr, hat keine Ahnung, wo er ist und muss wiederholt Passanten fragen, bis er schließlich wieder vor dem Haupteingang steht.

Er stellt sich vor eine Informationstafel, auf der die einzelnen Etagen und Stationen beschrieben sind, kann aus dem Plan keine verwertbaren Schlüsse ziehen: „Ich begriff rein gar nichts mehr. Den Dingen um mich herum waren ihre Namen wie zu weite Kleider über die Schultern hinab zu den Füßen gerutscht. So nackt, so von Sprache befreit, hatte ich die Welt noch nie gesehen.“ Und dann kommt sie zu zurück, die Orientierung, das Erinnerungsvermögen, wie ein Ruck: „Das Wort Platane schnappte sich die Platane, das Wort Patient fuhr in die Menschen hinab, das Wort Himmel schnürte die Wolken.“ Zurück in seinem Zimmer, versucht er, das Erlebte zu begreifen: Nie zuvor war er „aus allen Zusammenhängen herausgefallen, hatten sich derart viele Möglichkeiten aufgetan.“

Ein neues Leben Als Meyerhoff nach neun Tagen das Krankenhaus verlässt, ist nichts mehr, wie es war. Er ändert sein Leben. Hört auf am Burgtheater, zieht mit seiner Frau und dem kleinen Sohn nach Berlin, wo er heute noch lebt. Obwohl auf dem Buchrücken „Roman“ steht, hat das Buch doch viel mit seinem eigenen Leben zu tun. Und fast erleichtert nimmt man den Autor, einen hochgewachsenen, kahl geschorenen Bären von Mann wahr, wie er im Sessel diverser Talkshows sitzt und von seinem neuen Buch plaudert. Am besten gefällt mir ganz persönlich der Schluss: Meyerhoff zwingt sich an sein Laptop, denn um nichts in der Welt soll ihm die Sprache entschlüpfen. Er schreibt: „Natürlich wusste ich, dass ein Lebensfaden jederzeit reißen kann. Dennoch möchte ich davon erzählen, wie es ist, wenn die Selbstverständlichkeit der Existenz von einem Moment auf den andern abhandenkommt.“ Und er schließt mit dem Satz: „Mit der Rechten wird gedichtet, mit der Linken trainiert.“

Den Artikel finden Sie auch in DIE PTA IN DER APOTHEKE 03/2021 ab Seite 138.

Alexandra Regner, PTA und Journalistin

Joachim Meyerhoff Hamster im hinteren Stromgebiet
Roman, Kiepenheuer & Witsch, 320 Seiten 24 Euro ISBN: 978-3-462-00024-5

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