Mann sitzt auf Bücherstapel und zeichnet an die Wand. © bowie15 / iStock / Getty Images
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Bücher, von denen man spricht

GENIALE STÖRUNG

Gottfried hieß der Junge, den seine Großmutter in die Universitäts-Kinderklinik in Wien zur genaueren Untersuchung brachte. Man hielt ihn für schwachsinnig. Ein junger Arzt namens Hans Asperger sah das anders.

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Der neunjährige Junge verhielt sich sonderbar, weshalb er von seinen Mitschülern kräftig gemobbt wurde. Kleinste Veränderungen in seinen regulären Tagesabläufen brachten ihn durcheinander. Wenn er verwirrt oder verstimmt war, brabbelte er vor sich hin und zappelte. Andere Kinder interessierten ihn nicht. Wenn ihn der Lehrer aufrief, gab er kluge Antworten; doch wie man sich die Schuhe band, konnte sich der Junge einfach nicht merken. Hans Asperger, der sich für diese gemeinhin als „zurückgeblieben“ geltenden Kranken interessierte, widmete sich seinen kleinen Patienten mit Hingabe und adaptierte für sie den Begriff des „Autismus“. Leo Kanner, ein amerikanischer Kollege, hatte ihn zeitgleich geprägt und leitete ihn vom griechischen Wort autos, „selbst“ – ab, weil die kleinen Patienten in Abgeschiedenheit am zufriedensten zu sein schienen. Es gab jedoch einen Unterschied zwischen beiden Ärzten: Kanner fand es unvorstellbar, dass sich diese Kinder tatsächlich für die verschrobenen Details interessierten, mit denen sie sich so intensiv beschäftigten.

Asperger vs KannerDem amerikanischen Journalisten Steve Silberman ist dieses Buch mit dem Titel „Geniale Störung“ zu verdanken. Auf 560 Seiten hat er akribisch geordnet, was es zum Thema Autismus zu sagen gibt und dazu gehört auch die Geschichte dieser neurologischen Besonderheit, die früher als Krankheit gewertet wurde. „Asperger hätte in diesen Fällen eine besondere Intelligenz erkannt, die eine verwirrende Welt in systematischem Datensammeln fassbar machte“, sagt der Autor. „Kanner hingegen sah darin nur einen verzweifelten Versuch, elterliche Zuwendung zu gewinnen.

Indem er den Eltern vorwarf, den Autismus ihrer Kinder ungewollt zu verursachen, sorgte er dafür, dass das Syndrom für Familien in aller Welt zu einer Quelle der Scham und zu einem Stigma wurde und dass die Autismusforschung ein halbes Jahrhundert lang in die falsche Richtung gelenkt wurde.“ Die Eltern seien schuld daran, dass sich ihr Kind in sich selbst zurückgezogen habe. Bis mit diesem Vorurteil gründlich aufgeräumt wurde, vergingen Jahrzehnte. Und nicht zuletzt ein Film mit Dustin Hoffmann – „Rain Man“ – sorgte dafür, dass der Autismus aus seiner Psycho-Ecke herauskam. Heute gibt es Menschen, die stolz auf ihre besonderen Fähigkeiten sind, sie offen vertreten und in ihren Bereichen Spezialisten sind. Schwierigkeiten haben sie meist nur mit sozialer Interaktion.

Es scheint so, als sei für Erfolge in Wissenschaft und Kunst ein Quantum Autismus erforderlich. Hans Asperger (1906–1980), Kinderarzt und Namengeber für das gleichnamige Syndrom

Der Lord, der besonders war Der englische Adlige Henry Canvendish war so ein Fall. Man ließ ihn im Mutterland der exzentrischen Lords so leben wie es ihm gefiel. Nämlich abgeschieden von jeglichem menschlichen Miteinander mit strengen Regeln für Bedienstete und null Besuch im Herrenhaus. Unterhaltungen in seinem Club hörte er nur zu und das auch noch versteckt hinter Bücherregalen. Er trug immer nur einen einzigen Gehrock, der erst erneuert wurde, wenn er praktisch auseinanderfiel und zum Essen gab es stets Hammelkeule - jeden Tag. Henry Cavendish war nicht nur einer der genialsten Naturphilosophen seiner Zeit, dem 18. Jahrhundert, sondern er war auch einer der ersten wahren Wissenschaftler im modernen Sinn.

Mit unermüdlichem Forschergeist widmete er sich der Chemie und Mathematik, der Physik und der Astronomie – und entdeckte mit seinen Versuchsanordnungen ganz nebenbei die Formel, die den Fluss elektrischen Stroms als Funktion des elektrischen Widerstands begreift, 100 Jahre vor Georg Simon Ohm, dessen Namen sie erhielt. Der Lord entdeckte ebenfalls, dass Wasser kein unteilbares Element ist, sondern aus Wasserstoff und Sauerstoff besteht – den Erfolg heimste allerdings der Franzose Antoine de Lavoisier ein, der viel später darauf kam. Da Cavendish sich mit anderen Forschern aber nicht austauschte und Aufheben um seine Person verabscheute, ging diese wissenschaftliche Sensation unter: Der Lord war ohne Zweifel ein Autist, ein Inselbegabter.

Erschaffer der Science Fiction Hans Asperger war vielleicht der erste, der bemerkte, dass seine Patienten in ihrer Fantasie gelegentlich Entwicklungen in den Naturwissenschaften um Jahrzehnte vorwegnahmen – kein Wunder, dass ihnen niemand glaubte. So ist es heute nahezu vergessen, dass das Genre des Science Fiction seinen Anfang in einem Inselbegabten nahm, der um 1910 Apparaturen zur Herstellung von primitiven Funkgeräten anbot. Das Ganze entwickelte sich zu einer Community, in der sich Technik-Freaks trafen, ohne sich von Angesicht zu Angesicht austauschen zu müssen (heute übernimmt diese Funktion das Internet). Hugo Gernsbeck in Amerika brachte ein Monatsheft für die Amateurfunker heraus und schrieb fiktive Romane, die sich um Raumfahrt und fremde Welten drehten, wozu auch die Besiedlung von Mond und Mars gehörte. Hätte er gewusst, dass daraus ein eigenes Universum von Trekkie-Fans werden würde, hätte ihn das vielleicht glücklich gemacht.

Dass 1969 die ersten Menschen auf dem Mond landen sollten: Wer weiß, vielleicht hat er es vorausgeahnt. Als Hollywood die erzählerische Kraft entdeckte, die in der Persönlichkeit von Autisten steckt und dies mit Tom Cruise und Dustin Hoffman in einem Film umsetzte, der sofort Kult-Status erlangte und vier Oscars einheimste, endete das schummrige Schattendasein dieser psychischen Besonderheit abrupt. Hoffmann selbst, dem das Manuskript der auf einem wahren Fall beruhenden Geschichte in die Hände geriet, wollte genau diese Rolle des Savants unbedingt haben: Jener Raymond, der „Rain Man“, der blitzartig riesige Zahlen erfasst, Telefonbücher auswendig hersagt und sich weigert, bei Regen das Zimmer zu verlassen. Hoffmann hatte sich zur Vorbereitung der Rolle mit Autisten getroffen und spielt die Figur mit schmerzhafter Intensität. Er las dazu auch das Buch „Durch die gläserne Tür“ der Autistin Temple Grandin, von der er erfuhr, dass es der größte Wunsch ihres Lebens sei, umarmt zu werden, doch kaum sei die Gelegenheit da, könne sie es nicht ertragen. „Dieser Satz hat mich wirklich fertig gemacht“, zitiert Silberman den Schauspieler.

Tummelplatz der Autisten Während man früher alles daran setzte, den Autismus zu „heilen“, weiß man heute, dass ein Betroffener mit dieser Besonderheit leben muss. Die ihm durchaus zum Vorteil gereichen kann: So wimmelt das Silikon Valley von inselbegabten, technikaffinen Menschen und eine dänische Firma hat sich das sogar zum Geschäftsmodell gemacht. „Specialisterne“ stellt gezielt Mitarbeiter aus dem autistischen Spektrum ein, um deren spezielle Fähigkeiten dem Markt zugänglich zu machen. Sie ist damit so erfolgreich, dass es inzwischen Niederlassungen in Großbritannien, den USA und Deutschland gibt.

Die Lektüre von „Geniale Störungen“ sollte für die Eltern autistischer Kinder Pflichtlektüre sein, die oft genug vor besonderen Herausforderungen stehen. Sie sind zum einen nicht allein – autistische Menschen gehören zur größten Minderheit der Welt – und können zum anderen von der These von Temple Grandin zehren: Menschen mit Autismus, Legasthenie und anderen Abweichungen von der kognitiven Norm können Beiträge zur Gesellschaft leisten, zu denen die sogenannten „Normalen“ niemals fähig wären.

Den Artikel finden Sie auch in DIE PTA IN DER APOTHEKE 11/2020 ab Seite 126.

Alexandra Regner, PTA und Journalistin

Steve Silberman „Geniale Störung. Die geheime Geschichte des Autismus und warum wir Menschen brauchen, die anders denken“. Taschenbuch, kartoniert, 560 Seiten, 20 Euro ISBN 978-3832164348

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