Physiotherapeut behandelt Bein © Wavebreakmedia / iStock / Getty Images
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Arthrose

ERHALTEN STATT ERSETZEN

Defekter Gelenkknorpel regeneriert sich nicht von allein. Mitunter ist es jedoch möglich, körpereigene Knorpelzellen im Reagenzglas zu vermehren und dann ins kranke Gelenk einzupflanzen. So bleibt manch einem das künstliche Gelenk erspart.

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Körpereigenes Gewebe im Labor züchten, sodass es später im Organismus natürliche Funktionen übernehmen kann? Was ein wenig nach Science-Fiction klingt, ist in der modernen Medizin längst Realität. Tissue Engineering heißt der englische Fachbegriff für Gewebekonstruktion beziehungsweise Gewebezüchtung. Ziel ist die Herstellung von biologischem Gewebe durch die gerichtete Kultivierung von Zellen, um damit kranke Gewebe bei einem Patienten zu ersetzen oder zu regenerieren. Schon seit einiger Zeit kann die Methode manchem Patienten mit verschlissenem Gelenkknorpel die Schmerzen nehmen und zu neuer Beweglichkeit verhelfen.

Schmerzhafter Schaden Gelenke sind Hauptakteure unseres Bewegungsapparates: Wie Scharniere verbinden sie auf flexible Weise zwei oder mehrere Knochen miteinander. Die Knochenenden sind dabei jeweils mit einer dünnen, elastischen Schutzschicht überzogen. Diese Knorpelschicht funktioniert wie ein Stoßdämpfer und verhindert, dass die knöchernen Gelenkanteile aufeinander reiben. Knorpeldefekte, etwa durch einen Unfall oder eine Sportverletzung, aber auch einfach durch Abnutzung, sind häufig die Ursache von Gelenkschmerzen. Typischerweise klagen Betroffene über Belastungsschmerzen, das Gelenk schwillt häufig an. Nach längerer Beanspruchung können sogar quälende Ruheschmerzen auftreten. Das macht deutlich: Lokale Knorpeldefekte können die Mobilität nicht nur im Alter erheblich einschränken und Sportunfähigkeit zur Folge haben.

Bleibt der Defekt unbehandelt, schreitet die Schädigung voran. Das betroffene Gelenk verschleißt immer stärker – oft so lang, bis schließlich ein künstliches Gelenk, eine sogenannte Endoprothese, erforderlich wird. Knorpelschäden früh zu beheben, um den Einsatz eines künstlichen Gelenks möglichst lange hinauszögern oder ganz vermeiden zu können, hat sich die Medizin zum Ziel gesetzt. Gelenkerhalt vor Gelenkersatz, lautet die Devise. Die schlechte Nachricht: Weil Knorpelgewebe keine eigenen Blutgefäße hat, wächst es nicht von allein nach. Selbst regenerieren kann es sich also nicht. Die gute Botschaft: Unter bestimmten Voraussetzungen ist es trotzdem möglich, verschlissenen Gelenkknorpel neu aufzubauen, Schäden so zu reparieren und Gelenkschmerzen zu beseitigen.

Züchten & einpflanzenEine moderne Operationsmethode, die dabei zum Einsatz kommt, ist die Knorpeltransplantation, im medizinischen Fachjargon autologe Chondrozyten-Transplantation (ACT) genannt. Das Verfahren, das in den letzten Jahren stets weiterentwickelt wurde, kann heute auf unterschiedliche Art und Weise durchgeführt werden. Doch das zugrunde liegende Prinzip ist immer ein ähnliches: In einem ersten Schritt wird dem Patienten durch einen minimal-invasiven Eingriff (Arthroskopie) eine kleine Menge gesundes Knorpelgewebe aus dem betroffenen Gelenk entnommen.

In einem spezialisierten Labor werden die patienteneigenen Knorpelzellen nun vermehrt, sprich zu transplantierbarem Ersatzknorpel herangezüchtet. Nach einigen Wochen können dem Patienten die im Labor gezüchteten, aber dennoch körpereigenen Knorpelzellen nun in einem zweiten operativen Eingriff in das beschädigte Gelenk eingepflanzt werden. Vor Ort vermehren sich die Zellen weiter, neues Knorpelgewebe bildet und verbindet sich mit dem noch vorhandenen gesunden Knorpel im Gelenk. Auf diese Weise ist der Defekt innerhalb weniger Monate vollständig repariert. Zum Einsatz kommt die autologe Chondrozyten-Transplantation vor allem bei Knorpelschäden in Knie-, aber auch in Hüft- und Sprunggelenken.

Gelenkersatz erforderlich?

Versagen medikamentöse Therapien und kommen Verfahren zum Gelenkerhalt nicht (mehr) infrage, sind Gelenkpatienten oft auf eine Endoprothese angewiesen. Mehr als 400 000 künstliche Gelenke werden in Deutschland jährlich eingesetzt. Rund 180 000 Patienten bekommen pro Jahr eine Knieprothese, fast 200 000 eine neue Hüfte. Seltener werden andere Gelenke ersetzt, etwa Schulter- und Sprunggelenk. Um eine qualifizierte Fachklinik zu finden und ein bestmögliches Operationsergebnis zu erzielen, lohnt es sich, vorab sorgfältig zu recherchieren. Darauf weist die AE – Deutsche Gesellschaft für Endoprothetik hin.

Für eine hohe Behandlungsqualität sei nicht primär die Größe der Klinik entscheidend. Vielmehr komme es darauf an, dass die Einrichtung in allen Behandlungsschritten über die erforderliche Expertise verfüge. Die Fachgesellschaft rät, sich die Zahl der insgesamt durchgeführten Hüft- und Knie-Operationen sowie die Operationszahlen der einzelnen Ärzte anzusehen. Faustregel: Mindestens 300 Eingriffe im Jahr sprechen für viel Erfahrung der Klinik, mindestens 50 Hüft- beziehungsweise Kniegelenk-OP jährlich für die notwendige Routine des Arztes. Weitere Orientierungshilfen: die freiwillige Teilnahme der Einrichtung am Endoprothesenregister Deutschland (EPRD) sowie das EndoCert-Qualitätssiegel.

Viele Vorzüge Die Vorteile der Knorpeltransplantation liegen auf der Hand: Ein bestehender Knorpelschaden kann vollständig geheilt, Gelenkersatz hinausgezögert, bestenfalls sogar ganz verhindert werden. Eine Abstoßungsreaktion der Zuchtzellen aus dem Labor ist nicht zu befürchten, da es sich um körpereigene Substanzen handelt. Nach erfolgreichem Eingriff kann sich der Patient über belastbares, neues Knorpelgewebe freuen. Weiterer Pluspunkt: Die Erfolgsraten können sich sehen lassen. Neuere Studien berichten von einer etwa 90-prozentigen Erfolgsquote.

Nicht für jedermann Leider ist die autologe Chondrozyten-Transplantation bislang jedoch weder für jedermann geeignet noch bei sämtlichen Knorpeldefekten anwendbar. Faustregel: Profitieren können davon in der Regel jüngere Menschen, die im Idealfall nicht älter als 50 Jahre sind, mit eng umgrenzten Knorpelschäden. Das heißt: An der umschriebenen Stelle darf der Knorpel zwar stärkere Schäden aufweisen, das übrige Gelenk muss aber intakt und stabil sein. Ob dies der Fall ist, kann der Mediziner meist anhand einer Magnetresonanztomografie (MRT) beurteilen.

Bei Volkskrankheiten wie fortgeschrittener Arthrose kann bislang keine ACT durchgeführt werden. Auch für alte Menschen, Patienten mit ausgeprägter X- oder O-Bein-​Stellung und für Gelenkpatienten mit schwerer Allgemeinerkrankung ist das Verfahren in aller Regel ungeeignet. Forschung und Wissenschaft arbeiten jedoch intensiv daran, gezüchteten Knorpel aus dem Reagenzglas künftig noch breiter einsetzen zu können, zum Beispiel bei ausgeprägten arthrotischen Gelenkläsionen.

Nach dem Eingriff Nach einer Knorpeltransplantation muss das Gelenk mehrere Wochen entlastet werden, Patienten sind eine Zeitlang auf entsprechende Gehhilfen angewiesen. Nicht erforderlich ist es hingegen, das Gelenk vollständig ruhig zu stellen. Im Gegenteil: Kontrollierte Bewegungen, zum Beispiel im Rahmen einer Physiotherapie, können die Heilung fördern. Wenn der Arzt grünes Licht gibt, können Betroffene etwa drei Monate nach dem Eingriff wieder moderat Sport treiben, zum Beispiel mit dem Fahrrad fahren oder walken. Bis sich das Gelenk vollständig regeneriert hat und wieder voll belastet werden kann, vergeht etwa ein Jahr.

Den Artikel finden Sie auch in DIE PTA IN DER APOTHEKE 11/2020 ab Seite 64.

Andrea Neuen, freie Journalistin

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