DNA-Strang © Vasyl Dolmatov / iStock / Getty Images
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Bücher, von denen man spricht

DIE MEDIZIN DER ZUKUNFT

Die Revolution findet mal wieder ohne uns statt: nämlich außerhalb Deutschlands, im amerikanischen Silicon Valley. Dort sprießen die medizinischen Start-Ups wie Pilze aus dem Boden.

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Zukunftsmedizin – so nennt der Spiegel-Journalist Thomas Schulz sein neues Buch. Der 45-Jährige hat sich im Laufe seines Berufslebens einen exklusiven Zugang zu den Investoren, Konzernchefs und Forschern der boomenden Gesundheitsbranche nicht nur im High-Tech-Tal nahe San Francisco erarbeitet. Das Silicon Valley, das seinen Namen den Silicium-verarbeitenden Betrieben der aufstrebenden Computerindustrie verdankt, steht heute auch für Innovationen im Gesundheitswesen. Nicht umsonst bauen sich Unternehmen wie Google, Microsoft und Apple dort immer größere Unternehmenszentralen ihrer Tochterfirmen, die sich „Verily“ oder „Healthcare Next“ nennen und nichts anderes im Sinn haben, als die Medizin komplett auf neue Füße zu stellen. Wie sie das tun? Indem sie das Undenkbare denken.

Das Tal der Innovationen Es ist kein Zufall, dass 1976 im Silicon Valley das erste gentechnisch hergestellte Insulin produziert wurde und dort die Genschere Crispr-Cas9 bereits zum technologischen Alltag gehört. Mit der vor fünf Jahren gestarteten Methode lassen sich Gene zielgenau wie in einem Textverarbeitungsprogramm per Suchen und Ersetzen einfach herausschneiden und verändern und damit die grundlegenden Eigenschaften von Pflanzen, Tieren oder Menschen manipulieren. In Amerika können Chemielehrer derartige Sets für ihre Schüler bestellen, damit sie damit im Unterricht experimentieren. In Deutschland steht das unter Strafe.

Thomas Schulz nennt unsere Dekade das „Zeitalter der Genetik“. Mit Hilfe künstlicher Intelligenz entwickelt sich gerade eine datenbasierte Computer-Medizin, die perfekt auf den einzelnen Patienten zugeschnitten wird und beispielsweise eine passgenaue Krebstherapie möglich macht. Die kann zum Beispiel darin bestehen, dass fehlerhafte DNA „repariert“ und somit unkontrolliert wuchernde Krebszellen vom Immunsystem wieder aussortiert werden. Es ist auch möglich, T-Zellen zu entnehmen und per Gen-Manipulation aufzurüsten, sodass aus ihnen wieder jene Killerzellen werden, die alles aus der Art Geschlagene einfach auffressen.

KI entspricht der Dampfmaschine Und da für diese neuartigen medizinischen Zweige eine Unmenge von Daten analysiert werden müssen, bleibt gar nichts anderes übrig, als KI anzuwenden, die Künstliche Intelligenz: Maschinen lernen durch Anwendung selbst dazu, auf verschiedenen Ebenen, die man mit menschlichem Bewusstsein vergleichen kann. Computer kombinieren unter anderem mittels Algorithmen die Daten miteinander – was einem Menschen nicht mehr möglich ist, da die Kapazität seines Gehirns dafür einfach nicht ausreicht.

Der deutschstämmige Sebastian Thrun, der im Silicon Valley unter anderem an der Produktionsreife fliegender Autos arbeitet, formuliert das so: „Für mich ist aufkommende künstliche Intelligenz vergleichbar mit der Erfindung der Dampfmaschine vor 300 Jahren. So wie die Bauern dadurch nach und nach von immer mehr Lasten der körperlichen Arbeit befreit wurden, wird uns die künstliche Intelligenz von der Last der sich routinemäßig wiederholenden Arbeiten befreien.“ Denn die Technologie schlägt in diesem Fall den Menschen. Auch der erfahrenste Hausarzt kennt nicht alle seltenen Krankheiten; ein Computer, der entsprechend mit Daten gefüttert wurde, erkennt einen Hautkrebs in sehr frühem Stadium und das Mabry-Syndrom anhand einer Gesichtsanalyse.

Die Zukunft ist schon da Und es ist noch viel mehr bereits möglich: Bioprinting, der Nachbau von Geweben am 3-D-Drucker, gerade für Hauttransplantationen eine segensreiche Erfindung. Es wird wohl nicht mehr lange dauern, da können auch Organe nachgebaut werden – das würde beispielsweise Organtransplantationen revolutionieren, findet der Autor. Luxturna®, das erste zugelassene maßgeschneiderte Gentherapeutikum für eine bestimmte Form von Erblindung. Kymriah®, eine andere Gentherapie, gegen Blutkrebs. Noch ist das alles sehr teuer – noch. Thomas Schulz kennt auch das nächste Ziel der Branche: nämlich durch „Machine Learning“ psychische Störungen zu erkennen.

Der Autor bricht eine Lanze für eine auf Genanalysen basierende Medizin: Der DNA-Test sollte Standard werden, findet er. Er ermöglicht nämlich unter anderem eine personalisierte Medizin. Doch das ist in Deutschland immer noch schwieriges Terrain. Die Zurückhaltung bei den Investitionen in diese Zukunftsbranche hat auch damit zu tun, dass die Tragweite der Entwicklung noch nicht angekommen ist: „In 10, 15 Jahren wird die Medizin total anders aussehen als heute, aber wirklich total“, sagt Friedrich von Bohlen, Chef von „Molecular Health“, einem Bioinformatik-Start-up in Heidelberg. Er ist einer der wenigen Medizin-Doyens, die es schaffen, Risikokapital einzusammeln, ohne die medizinische Forschung, die in gewinnbringende Produkte umgewandelt werden soll, nun mal nicht funktioniert.

Schulz warnt vor der hierzulade typischen Einstellung: „Der in Deutschland so ausgeprägte Zukunftspessimismus ist auf Dauer eine gefährliche Haltung: Um wirklich voranzukommen, wird es mehr Optimismus brauchen und den Willen, sich die positive Gestaltung der Zukunft nicht aus den Händen reißen zu lassen von den negativen Kräften, den Bedenkenträgern und Blockierern.“ Schulz zitiert als Beispiel den nicht enden wollenden Streit um die elektronische Patientenakte. Die wäre wirklich praktisch, Datenschützer haben da aber so ihre Einwände und zitieren gern das Bild vom „gläsernen Patienten“.

Gentest aus der Drogerie Der Autor geht mit guten Beispiel voran: Er hat schon mal Teile seines Genoms analysieren lassen, das kostet in Amerika 199 Dollar, als Kit zu erwerben in beliebigen Drogeriemärkten. Heraus kam: Sein Erbgut enthält keine Varianten für Sichelzellenanämie, das Bloom-Syndrom oder die autosomale Nierenkrankheit. Gluten und Laktose sind kein Problem für das Verdauungssystem des Journalisten. Und das Wichtigste: Er trägt keine genetischen Marker, die auf ein erhöhtes Risiko für Parkinson oder Alzheimer hinweisen.

Jedoch eine genetisch bedingte Fehlfunktion, die zu Hämochromatose führt, was auch endlich seine schlechten Blutwerte trotz körperlicher Topform erklärt: „Hätte ich diesen Test früher gemacht, wäre mir die Odyssee durch die Arztpraxen erspart geblieben“, bilanziert Schulz. Dass ein solcher Test keine bloße Spielerei ist, beweist auch das Beispiel von Angelina Jolie: Die Schauspielerin ließ aufgrund eines genetischen Nachweises für die erhöhte Wahrscheinlichkeit, an Brustkrebs zu erkranken, beide Brüste amputieren – was aller Wahrscheinlichkeit nach ihr Leben drastisch verlängern wird.

Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 02/19 ab Seite 120.

Alexandra Regner, PTA und Journalistin

Thomas Schulz: Zukunftsmedizin. Wie das Silicon Valley Krankheiten besiegen und unser Leben verlängern will.
 Hardcover mit Schutzumschlag, 288 Seiten, ISBN 978-3-421-04811-0, 20,00 Euro, DVA-Sachbuch

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