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Psychologie in der Apotheke

DIE MACHT DER SPIEGELNEURONEN

Spiegelneuronen spielen bei der Steuerung psychologischer und zwischenmenschlicher Prozesse eine entscheidende Rolle. Sie wurden 1996 von einer italienischen Forschergruppe zufällig entdeckt.

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Wir sehen jemanden gähnen und machen mit, je- mand weint und uns kommen auch die Tränen? Dafür sind die sogenannten Spiegelneuronen verantwortlich. Auch Fußballfans kennen die Situation, dass ihnen das Herz bis zum Halse schlägt, wenn sie ein Match ihrer Lieblingsmannschaft erleben. Verliert das Team, fließen bei Fans oft die Tränen, während sie bei einem Sieg überschwänglich mit ihren Favoriten jubeln.

Kleine Zellen, große Wirkung Nervenzellen, auch Neuronen genannt, sind kleinste Zellen, die auf Signalübertragungen spezialisiert und für verschiedene Funktionen im Nervensystem verantwortlich sind. Im Gehirn gibt es schätzungsweise 86 Milliarden Neuronen. Sie bestehen aus einem Zellkörper mit mehreren Fortsätzen, einem Axon zur Weiterleitung von Reizen und mehreren Dendriten zum Empfang von Informationen. Je nach Anzahl ihrer Fortsätze, ihrer Funktion oder Lage im Körper werden die Neuronen in unterschiedliche Kategorien aufgeteilt. Bei den Spiegelneuronen handelt es sich um ein Resonanzsystem im Gehirn, das Emotionen und Stimmungen anderer Personen bei dem Empfänger ebenfalls hervorruft.

Die Nervenzellen befinden sich im präfrontalen Kortex, genau genommen im Broca-Areal, welches unter anderem mit der Sprachproduktion in Verbindung steht. Bei Menschen, die ihr Gegenüber beobachten, sind die gleichen Zellen im Gehirn aktiv wie bei der tätigen Person. Beobachten Zuschauer beispielsweise Tänzer auf der Bühne, arbeiten bei ihnen die gleichen Hirnbereiche wie bei den Tanzenden selbst. Die Spiegelneuronen gaukeln dem Anwesenden somit vor, das Geschehen selbst zu erleben. Sie begleiten den Alltag quasi ständig: Wer in der Bahn angelächelt wird, lächelt in der Regel zurück, wer jemanden weinen sieht, fühlt sich auch traurig.

Empathie erlernen Die Fähigkeit zum Spiegeln des Verhaltens entwickelt sich jedoch nicht von alleine, sondern muss erlernt werden. Beim Baby ist es die Mutter oder eine andere Bezugsperson, welche die Spiegelneuronen aktiviert. Experten gehen davon aus, dass die Spiegelneuronen im Alter von vier bis fünf Jahren vollständig ausgebildet sind. Erkennbar wird dies beispielsweise, wenn Kleinkinder traurige Mitmenschen trösten. Die imitierenden Nervenzellen funktionieren schließlich unbewusst, ohne dass man darüber nachdenken muss.

In kürzester Zeit stecken sie die beobachtende Person mit dem Zustand des beobachteten Gegenübers an. Es existieren allerdings verschiedene Hemmmechanismen, die das Spiegeln der Gefühle verhindern. Der Verstand oder andere überlagernde Emotionen können hinderlich sein, den Zustand zu übernehmen. In einigen Fällen ist dieser Hemmmechanismus sinnvoll, etwa wenn es darum geht, sich von ständigen Nörglern nicht anstecken zu lassen.

Personen mit aktiven Spiegelneuronen weisen ein hohes Maß an Empathie auf.

Die Entdeckung der Spiegelneuronen Zu Beginn der Neunzigerjahre führte eine Gruppe um den italienischen Wissenschaftler Giacomo Rizzolatti Versuche mit Makaken durch, in denen es ursprünglich darum gehen sollte, wie das Gehirn Handlungen plant und umsetzt. Dabei erlebten die Forscher eine Überraschung: Die Neuronen des Hirnbereichs F5c reagierten nicht nur, wenn der Affe nach einer Nuss griff, sondern auch, wenn die Versuchsleiter sich die Leckerbissen nahmen. Zunächst gingen die Wissenschaftler von einem Zufall aus, allerdings ließ sich die Reaktion zuverlässig wiederholen. Fortan wurden die Nervenzellen als Spiegelneuronen (mirror neurons) bezeichnet.

Vor einigen Jahren haben niederländische Forscher herausgefunden, dass Spiegelneuronen nicht nur beim Zuschauen, sondern auch bei akustischen Reizen aktiviert werden. Die Probanden hörten Geräusche wie das Zerreißen von Papier oder das Knacken von Erdnüssen, während ihre Gehirnströme aufgezeichnet wurden. In den imitierenden Neuronen zeigte sich eine ähnliche Aktivität, wie sie bei eigenen Handlungen vorliegt. 2006 spielte die Neurowissenschaftlerin Sophie Scott vom University College London ihren Versuchspersonen Laute vor, die mit Ekel, Freude, Triumph oder Angst assoziiert sind und stellte ebenfalls fest, dass die entsprechenden Hirnbereiche der Probanden aktiv waren.

Im Jahr 2010 gelang es den Forschern Roy Mukamel und Itzhak Fried von der University of California in Los Angeles, die Aktivität der Spiegelneuronen im Gehirn erstmals zu messen. Sie experimentierten mit Epilepsie-Patienten, welchen zur Behandlung ihrer Krankheit Elektroden ins Gehirn gepflanzt wurden. Diese nutzten sie zur Ableitung von Aktionspotenzialen von aktiven Nervenzellen an benachbarte Neuronen. Mukamel und Fried konnten in zwei Hirnarealen Spiegelneuronen nachweisen, die bei der Beobachtung von Handlungen anderer Personen feuerten.

Empathieneuronen Aus den Ergebnissen der unterschiedlichen Untersuchungen wurde geschlossen, dass Personen mit aktiven Spiegelneuronen ein hohes Maß an Empathie aufweisen. Menschen mit wenig Aktivität in den nachahmenden Nervenzellen zeigen hingegen weniger bis gar kein Mitgefühl. Auf diese Weise lassen sich vermutlich auch die sozialen Defizite von Autisten erklären, bei ihnen scheint die Aktivität der Spiegelneuronen eingeschränkt zu sein.

Ähnlichkeit verbindet Spiegelneuronen sind allerdings nicht nur im Zusammenhang mit dem Einfühlungsvermögen relevant, sondern spielen auch beim sogenannten Resonanzphänomen eine entscheidende Rolle. Personen, die sich mögen, sind sich ähnlich und haben Gemeinsamkeiten. Sympathien werden demnach geweckt, wenn Menschen Gestik, Mimik und Körpersprache des Gegenübers dezent nachahmen. Erhalten Beobachter ein Lächeln, lächeln sie in der Regel zurück – Spiegelneuronen stellen somit einen Grundstein für das zwischenmenschliche Miteinander dar.

Ort des Schmerzempfindens Neuroimaging-Studien machten deutlich, dass beim Erleben von Schmerzen der Cinguläre Kortex aktiviert ist. (Unter Neuroimaging versteht man ein bildgebendes Verfahren, welches das Nervensystem abbildet.) Die Hirnregion arbeitet ebenfalls, wenn Menschen mit Schmerzen gesehen werden, woraus man schließen kann, dass der Cinguläre Kortex über Spiegelneuronen verfügt. Dies wollten Forscher um Christian Keysers vom Niederländischen Institut für Neurowissenschaften in Amsterdam an Ratten messbar machen. Bereits bekannt war ihnen, dass die Tiere auf das Verhalten ihrer Artgenossen mitfühlend reagieren – ähnlich wie Menschen.

Provozierte man bei den Tieren Schmerzreize an der Pfote, spiegelte sich die Empfindung an den Nerven im Cingulären Kortex der Nager wider: Die Ratten erstarrten vor Schmerz. Die beobachtenden Ratten erstarrten ebenfalls und zeigten die gleiche Aktivität der Neuronen im Cingulären Kortex. Im nächsten Schritt schalteten die Wissenschaftler mit einem injizierten Medikament die Spiegelneuronen-Aktivität der beobachtenden Ratten aus, diese erstarrten nun nicht mehr, wenn sie sahen, dass ein Artgenosse Schmerzen erlitt. Keysers und Kollegen sind der Auffassung, dass man die Ratten durch die Injektion – vermenschlicht ausgedrückt – zu Psychopathen gemacht habe. Psychopathen fehlt ebenfalls das Mitgefühl und sie weisen in genau dieser Hirnregion abweichende Aktivitäten auf.

Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 04/2020 ab Seite 66.

Martina Görz, PTA, M.Sc. Psychologie und Fachjournalistin

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