© Rawpixel / fotolia.com

Multiple Sklerose

DIE KRANKHEIT MIT DEN 1000 GESICHTERN

Wir haben es einem britischem Königsenkel zu verdanken, dass die Encephalomyelitis disseminata bereits 1822 Eingang in die Medizin fand. Er beschrieb damals deren Anfangssymptome.

Seite 1/1 4 Minuten

Seite 1/1 4 Minuten

Augustus d’Este, Enkel von Georg II, schrieb „Ich gezwungen, mir die empfangenen Briefe vorlesen und meine Antwortbriefe schreiben zu lassen, da meine Augen so angegriffen waren, dass das Sehen undeutlich wurde, wenn ich kleine Dinge fixierte“. Später schilderte er doppeltes Sehen, Taubheitsgefühle und Empfindungsstörungen in den Beinen, Symptome, die drei Wochen andauern sollten: „Die Kraft in den Beinen hatte mich fast ganz verlassen.“

Damit ist ein klassischer Schub der Multiplen Sklerose in Worte gefasst; der Herzog beschrieb einige der Beschwerden, die als typisch gelten. Denn die „MS“, eine der häufigsten neurologischen Erkrankungen im jungen Erwachsenenalter, zerstört die Reizweiterleitung der Nervenbahnen, sodass Impulse nunmehr fehlerhaft oder gar nicht in den Organen ankommen.

Gegen sich selbst Das Tückische dabei ist: Die chronischen Entzündungsherde können überall sein. Die Symptome richten sich danach, ob sie im Gehirn, im Rückenmark oder am Sehnerv auftreten. Man vermutet, dass eine autoimmune Reaktion dafür verantwortlich ist, dass sich das Immunsystem des Körpers auf die Isolierschicht der Nerven stürzt und diese schrittweise zerstört. Die sogenannten Myelinscheiden funktionieren dabei wie die Plastikumhüllung eines elektrischen Kabels; sind sie nicht mehr vorhanden, kommt es zum Kurzschluss.

Unbekannter Auslöser Warum diese Krankheit manchen befällt und den andern nicht, warum sie beim einen ohne Pause progredient, beim nächsten in Schüben verläuft und warum sie so häufig Menschen unter Dreißig und hier besonders oft Frauen befällt – keiner weiß es so genau. Die Wissenschaft forscht fieberhaft und ist doch dem Geheimnis noch nicht auf die Spur gekommen, weiß lediglich, dass vermutlich eine genetische Disposition besteht und Umweltfaktoren eine Rolle spielen. Doch mittlerweile ist man wenigstens soweit, die Symptome meist im Griff zu haben: An Encephalomyelitis disseminata Erkrankte haben annähernd dieselbe Lebenserwartung wie gesunde Menschen.

Wichtig: Diagnostik Sehr häufig äußert sich die Erkrankung zu Beginn mit einer Sehstörung, mit Muskelschwäche oder Empfindungsstörungen in den Extremitäten oder krampfartige Spastiken von Muskelgruppen. Der Neurologe macht verschiedene Tests: Der Bluttest soll andere Erkrankungen ausschließen; mittels Lumbalpunktion sucht man nach bestimmten Eiweißkörpern, die bei MS gehäuft auftreten, ein MRT oder eine Kernspintomographie kann Veränderungen im Gehirn schon im Frühstadium abbilden. Außerdem testet der Arzt die Reizweiterleitung der Nerven; ein hoher Anteil der Erkrankten zeigt hier verzögerte Werte.

VERBLÜFFENDE FAKTEN
Keiner weiß warum, aber in den kühlen Regionen unserer Erde tritt die Multiple Sklerose
häufiger auf als in den warmen. In Dänemark sinkt die MS-Sterblichkeitsrate gerade dramatisch.
Und Kinder, die aus MS-reichen Ländern in MS-arme ziehen, übernehmen das Erkrankungsrisiko
des Ziellandes; Erwachsene jedoch nicht.

Die Multiple Sklerose verläuft zu Beginn in über achtzig Prozent der Fälle in Schüben. Dabei treten die beschriebenen Symptome in den Vordergrund: Empfindungsstörungen, Muskelkrämpfe, Sehstörungen, Kraftlosigkeit der betroffenen Gliedmaßen, manchmal auch Harninkontinenz. Es kann außerdem zu Beeinträchtigungen des Sprachvermögens kommen: Die Betroffenen sprechen verwaschen und undeutlich.

Zu den besonderen Symptomen zählt auch eine außerordentliche Müdigkeit und Antriebslosigkeit. Ein Schub dauert unterschiedlich lang, er kann einige Tage oder auch Wochen andauern. Danach ereignet sich häufig eine Remission; der Erkrankte ist nahezu beschwerdefrei. Medizinisch unterscheidet man verschiedene Verläufe: Der weitaus häufigste ist der schubförmige remittierende oder jener mit anschließend (sekundär) chronisch progredientem Verlauf. Selten startet die Erkrankung bereits mit dem primär progredientem Verlauf.

Therapie An Multipler Sklerose zu erkranken heißt nicht zwangsläufig ein Leben mit schwerer Behinderung zu führen. Die Medizin hält verschiedene Therapieansätze parat: So wird zum einen von Schubtherapie gesprochen; zum anderem von der immunmodulierenden Langzeittherapie. Und schließlich gibt es noch die Behandlung symptomatischer Beschwerden. In der akuten Krankheitsphase werden meist über einige Tage hochdosiert entzündungshemmende Glukokortikoide gegeben. Diese beeinflussen zwar nicht den Langzeit-Verlauf, bringen aber den aktuellen Schub schneller zum Abklingen.

Für die Langzeittherapie im moderaten Verlauf werden beta-Interferone oder Dimethylester eingesetzt, in zweiter Linie auch das Immunsuppressivum Azathioprin oder Immunglobuline. Für die schweren Verlaufsformen stehen weitere, hochpotente Medikamente zur Verfügung, unter anderem seit 2011 der Wirkstoff Fingulimod, der die Entzündungszellen daran hindert, die Lymphknoten zu verlassen. Für die symptomatische Therapie stehen außerdem physiotherapeutische Maßnahmen, Egotherapie und Logopädie zur Verfügung.

Hintergrund Doch was begünstigt überhaupt den Ausbruch dieser schweren chronischen Erkrankung, an der allein in Deutschland rund 120 000 Menschen leiden? Es gibt verschiedene Erklärungsansätze. Studien scheinen folgende Denkansätze zu belegen: Bei der Hygienehypothese geht man davon aus, dass Kinder, die unter mehreren Geschwistern aufwachsen und somit häufiger mit verschiedenen Krankheitserregern Kontakt haben, seltener an MS erkranken. Ihr Immunsystem ist trainierter; solche Kinder erkranken auch weniger häufig an Allergien.

Es gibt außerdem eine genetische Präposition – so findet sich eine, wenn auch schwache, Häufung der Erkrankung in bestimmten Familien; außerdem sind Menschen, die an den Autoimmunerkrankungen Diabetes Typ I oder Morbus Crohn leiden, stärker betroffen. Zu den begünstigenden Umwelteinflüssen zählen Rauchen und Übergewicht. Ein weiterer interessanter Ansatz besteht in der Vitamin-D-Stoffwechselhypothese.

Vitamin D wird benötigt, um Kalzium in den Knochen einzulagern und entsteht unter anderem durch direkte Sonneneinstrahlung auf die Haut. So haben Kinder, die in ihrer Jugend vermehrt dem Sonnenlicht ausgesetzt waren, später ein vermindertes Risiko, an Multipler Sklerose zu erkranken. Auch unter den Inuit in Grönland ist die Erkrankungsrate gering, da sie sich fisch- und somit Vitamin-D-reich ernähren.

Leben mit MS Zusammenfassend kann gesagt werden: Multiple Sklerose ist nicht heilbar. Aber sie kann in Schach gehalten werden; Bewegungsfähigkeit und Lebensqualität sollen so weit wie möglich durch Medikamente und andere Therapien erhalten werden. Wer die Diagnose erhält, sollte also keinesfalls sofort in Panik verfallen – eine Teilnahme an einer MS-Selbsthilfegruppe kann sich als äußerst wertvoll erweisen, denn hier werden vielerlei praktische Informationen ausgetauscht.

Den Artikel finden Sie auch in Die PTA IN DER APOTHEKE 10/15 ab Seite 46.

Alexandra Regner, PTA und Journalistin

×