© Osobystist / iStock / Getty Images
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Kinderkrankheiten

DAS WÄCHST SICH NICHT AUS

Wer als Kind oder Jugendlicher bereits übergewichtig oder fettleibig ist, wird dies wahrscheinlich auch bleiben – mit einem hohen Risiko für langfristige gesundheitliche Folgeschäden. Umso wichtiger ist eine frühe Intervention.

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In Deutschland ist mehr als jedes sechste Kind zwischen drei und 17 Jahren übergewichtig, knapp sechs Prozent sind adipös. Das hat die KIGGS-Studie des Robert Koch-Instituts für die Jahre 2014 bis 2017 ergeben. Per Definition ist übergewichtig, wer einen höheren Body Mass Index (BMI) hat als 90 Prozent seiner Altersgenossen in einer Referenzkohorte. Adipös ist, wessen Wert oberhalb der 97. Perzentile liegt. Damit sind die aktuellen Zahlen für Deutschland im Vergleich zu der vorherigen Erhebung aus den Jahren 2003 bis 2006 zwar stabil geblieben – verglichen mit den 80er- und 90er Jahren hat sich der Anteil der zu schweren Kinder und Jugendlichen jedoch verdoppelt.

Ebenfalls eine wichtige Erkenntnis aus der KIGGS-Studie: Mehr als die Hälfte der Kinder, die im Vorschulalter bereits übergewichtig gewesen waren, waren es als Jugendliche immer noch. Von den ursprünglich adipösen Kindern blieben es sogar zwei Drittel bis ins Jugendalter. Dieser Trend setzt sich bis ins Erwachsenenalter fort. In verschiedenen Untersuchungen bleiben zwischen zwei Drittel und 80 Prozent langfristig zu schwer.

Vielfältige Ursachen Sicherlich spielen veränderte Lebensgewohnheiten eine wichtige Rolle für die Zunahme von Übergewicht und Adipositas bei Kindern und Jugendlichen. So zeigt eine aktuell in den sozialen Netzwerken vielfach geteilte Bilderserie zum Thema „Kindheit damals und heute“ unter anderem einen bezeichnenden Cartoon: Damals zerrte die Mutter den Sohn, der viel lieber draußen weiter Fußball spielen wollte, quasi mit Gewalt ins Haus. Heute dagegen versucht sie, ihn gegen seinen Willen auf den Fußballplatz zu bringen – obwohl er viel lieber weiter drinnen Computer spielen würde. Neben Bewegungsmangel sind ungute Ernährungsgewohnheiten in der Familie, die von den Kindern früh gelernt und übernommen werden, eine weitere wichtige Ursache für Übergewicht und Adipositas.

Dazu zählen zum Beispiel ungesunde, zu kalorienreiche Nahrungsmittel und Getränke, häufige Zwischenmahlzeiten oder Belohnung mit Süßigkeiten. Außerdem gibt es ohne Frage auch eine genetische Veranlagung für Übergewicht – manche Menschen nehmen leichter zu als andere. Schließlich sind psychische Ursachen häufig sehr wichtig: Kinder und Jugendliche, die sich nicht wohlfühlen, zum Beispiel, weil es Probleme in der Familie oder im sozialen Umfeld gibt, können beim Essen eine Art Ersatzbefriedigung verspüren – und tun es deshalb immer wieder, obwohl sie eigentlich keinen Hunger haben.

Körperliche Ursachen für Adipositas wie angeborene oder erworbene Funktionsstörungen der Hirnanhangsdrüse, Schilddrüse oder Nebenniere sind dagegen sehr selten. Bekannt ist, dass Kinder die nicht oder nur kurz gestillt wurden, ein höheres Risiko haben, eine Adipositas zu entwickeln. Nicht zu vergessen: Die soziale Herkunft spielt eine große Rolle – Kinder aus sozial schwachen Familien sind deutlich häufiger übergewichtig. Schließlich wird die Rolle der Lebensmittelindustrie kritisch gesehen – vor allem die Herstellung zu kalorienreicher Nahrungsmittel, speziell an Kinder gerichtete Werbung und große Packungsgrößen werden moniert.

Überernährung und Bewegungsmangel sind auch bei jungen Menschen die Hauptursachen für Übergewicht und Adipositas.

Folgen Die Folgen von Übergewicht und Adipositas sind gravierend: Da ist zum einen die Stigmatisierung – gerade Kinder haben oft wenig Hemmungen, andere zu hänseln oder zu verspotten. Abgesehen von den seelischen Verletzungen entwickeln übergewichtige beziehungsweise adipöse Kinder eine ganze Reihe gesundheitlicher Probleme: Da der Beginn der Pubertät auch vom Körpergewicht abhängt, kommen übergewichtige Kinder häufig früher in die Pubertät – inklusive des früheren Beginns der Regelblutung bei den Mädchen und des Stimmbruchs bei den Jungen. Zudem ist das Skelettwachstum bei dicken Kindern schneller, weil ein entsprechender Wachstumsfaktor im Fettgewebe vermehrt gebildet wird.

Deshalb sind übergewichtige Kinder oft größer als Gleichaltrige. Die Über-Beanspruchung des Bewegungsapparats durch das Übergewicht kann zu orthopädischen Problemen (zum Beispiel Schädigung der Gelenke) und zu Schmerzen führen. Bei stark übergewichtigen oder adipösen Kindern und Jugendlichen können sich zwischen Hautfalten Ekzeme bilden. Sie leiden zudem häufiger an Atemnot und Asthma. Gravierend sind auch die Auswirkungen auf den Stoffwechsel und die hormonellen Veränderungen: Durch die erhöhten Blutzuckerspiegel kommt es zu dauerhaft erhöhten Insulinspiegeln im Blut und in der Folge zu einer Insulinresistenz, das heißt Sensibilität und Anzahl der Insulinrezeptoren auf der Oberfläche der Zellen sinken, der Zucker wird nicht vollständig aufgenommen und abgebaut.

Der Versuch der Bauchspeicheldrüse, dies durch Produktion von mehr Insulin auszugleichen, kann schließlich zur Erschöpfung des Organs und zur Ausbildung eines Typ-2-Diabetes führen. Gleichzeitig trägt der erhöhte Insulinspiegel zu einer Erhöhung des Blutdrucks sowie der Blutfettwerte bei. Die Folge: Arteriosklerose und im schlimmsten Fall koronare Herzkrankheit, Herzinfarkt oder Schlaganfall. Daneben begünstigen erhöhte Blutfettwerte die Ausbildung einer Fettleber. Schließlich haben übergewichtige Mädchen häufig erhöhte Testosteronwerte. Sowohl Mädchen als auch Jungen mit Übergewicht zeigen häufig erhöhte Estrogenwerte, die bei Jungs zu einer Vergrößerung der Brust führen können. So ist schon länger bekannt, dass vermutlich ein Zusammenhang zwischen Übergewicht und bestimmten Krebsarten besteht. Eine Auswertung einer großen US-Datenbank hat nun ergeben, dass bei jungen Erwachsenen die Häufigkeit vieler dieser Krebsarten in den letzten zwei Jahrzehnten messbar gestiegen ist.

Gegenmaßnahmen Damit es nicht so weit kommt, ist es sinnvoll, möglichst früh gegenzusteuern. Im Prinzip ist es logisch: Mehr bewegen und weniger und gesünder essen. Dafür müssen unbedingt auch die Eltern mit einbezogen werden, die möglichst eine Vorbildfunktion übernehmen und ihr Kind unterstützen sollen. Dies stellt allerdings vor allem dann eine Herausforderung dar, wenn sie selbst Teil der Ursache sind und das Übergewicht nicht als Problem wahrnehmen. Die Therapie der Adipositas setzt sich aus der Ernährungstherapie, Verhaltenstherapie und Bewegungstherapie zusammen. Meist ist sie als Gruppentherapie konzipiert und kann ambulant oder stationär erfolgen. Bezüglich der Zusammensetzung der Ernährung gelten dieselben Grundsätze wie auch bei Erwachsenen.

Abhängig davon, wie stark das Ausmaß des Übergewichts ist, kann es bei jüngeren Kindern ausreichen, das aktuelle Gewicht langfristig zu halten – das Abnehmen erledigt sich dann quasi durch das Längenwachstum von selbst. Wichtig ist ein strukturierter Mahlzeiten-Rhythmus, um unkontrollierte Zwischenmahlzeiten und auch Heißhungerattacken nach einer längeren Nahrungspause zu vermeiden. Verhaltenstherapeutische Ansätze kommen in vielerlei Hinsicht zum Tragen: Sie helfen beispielsweise dabei, Alternativen zu erlernen, also wie man mit Situationen wie Stress oder Langeweile umgehen kann, ohne zu essen.

Sie können auch aufzeigen, wie man mit Hänseleien selbstbewusst(er) umgehen kann. Auch ganz elementare Dinge wie etwa gutes Kauen werden geübt. Wichtig ist, dass mögliche Begleiterkrankungen wie Depressionen erkannt und ebenfalls behandelt werden. Schließlich spielt Bewegung eine essenzielle Rolle. Für den Einstieg eignen sich Sportarten wie Schwimmen oder Radfahren, Ausdauer ist wichtiger als kurze Kraftakte. Natürlich sollte auch im Alltag so oft wie möglich Bewegung eingebaut werden.

Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 10/19 ab Seite 130.

Dr. rer. nat. Anne Benckendorff, Medizinjournalistin

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