© DIE PTA IN DER APOTHEKE
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Intersexualität

DAS DRITTE GESCHLECHT

Immer wieder werden Kinder geboren, deren Geschlecht weder eindeutig männlich noch weiblich ist. Selbsthilfeverbände schätzen, dass in Deutschland etwa 160 000 intersexuelle Menschen leben.

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Diagnose DSD Personen des „dritten Geschlechts“ werden auch als Hermaphroditen oder Zwitter bezeichnet, da ihr Körper männliche und weibliche Merkmale vereint. Ihr geschlechtliches Erscheinungsbild hinsichtlich anatomischer, hormoneller oder chromosomaler Merkmale ist somit weder eindeutig männlich noch weiblich, sondern eine Mischung aus beiden Anteilen.

Der Chromosomensatz passt zum Beispiel nicht zum Genital, die Gonaden sind fehlangelegt oder es liegen sowohl Hoden- als auch Eierstockgewebe vor. Seit 2005 spricht man in der Medizin von DSD (Disorders of sexual development), also von einer Störung, mit Diagnosen wie XY-DSD oder XX-DSD. Allerdings beinhaltet die Bezeichnung eine Pathologisierung, sodass die Auslegung von DSD als „Differences of sexual development“, womit eine eigenständige Variante der Geschlechtsentwicklung gemeint wäre, besser passt.

Chromosomale Varianten Das Geschlecht eines Menschen wird durch seine Chromosomen bestimmt: Als männlich gilt, wer ein X- und ein Y-Chromosom besitzt, weibliche Individuen verfügen hingegen über zwei X-Chromosomen. Allerdings kann es verschiedene Abweichungen geben: Beim Turner-Syndrom fehlt den Individuen eines der beiden Geschlechtschromosomen des weiblichen Chromosomensatzes, sie haben lediglich ein X-Chromosom und ihr Erscheinungsbild ist weiblich. Beim Klinefelter-Syndrom findet sich in einigen oder allen Körperzellen der Person zusätzlich zum X- und Y- Chromosom ein weiteres X-Chromosom.

Biologisch sind Betroffene männlich, ihr Hoden ist allerdings vergleichsweise klein und sie bleiben in der Regel zeugungsunfähig. Paul Martin Holterhus, Professor für Pädiatrische Endokrinologie an der Universität Kiel, zählt diese beiden Varianten ausdrücklich nicht zu den Intersexformen. Eine weitere Abweichung ist der Chimärismus, bei dem ein Organismus aus genetisch unterschiedlichen Zellen aufgebaut ist. Vom Mosaik spricht man hingegen, wenn das chromosomale Geschlecht nicht in allen Körperzellen identisch ist. Holterhus sieht die 45, X/46, XY-gemischte Gonadendysgenesie, eine Genitalfehlbildung der Keimdrüsen aufgrund einer numerischen Anomalie der Geschlechterchromosomen mit einem Y-chromosomalen Mosaik, als mögliche Ursache der Intersexualität.

Fragwürdige Operationen Bei normal entwickelten Kindern ist das Geschlecht bei der Geburt leicht zu bestimmen, anders bei Intersexuellen. Da diese Personengruppe weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zuzuordnen ist, werden die meisten Babys Zwangssterilisationen unterzogen. Die Chirurgen korrigieren die Geschlechtsanlagen Betroffener, indem sie beispielsweise Hodengewebe entfernen und eine Neo-Vagina anlegen. Die Ärzte passen also nach der Geburt das mit nicht eindeutigen Geschlechtsmerkmalen zur Welt gekommene Neugeborene an ein männliches oder weibliches Geschlecht an – eine irreversible Entscheidung im Leben Betroffener.

Die Genitalkorrektur wird demnach ohne Mitentscheidung der Patienten durchgeführt, auch weitere Eingriffe in der Kindheit und der frühen Jugendzeit erfolgen zu einem Zeitpunkt, zu dem die Menschen nur bedingt einwilligungsfähig sind. Häufig ziehen die Operationen leidvolle Konsequenzen nach sich wie zum Beispiel eine lebenslange Abhängigkeit von einer künstlichen Hormontherapie, Sensibilitätsverlust, Zeugungsunfähigkeit sowie psychische Erkrankungen in Form von Traumata oder Depressionen. Daher bewertet ein großer Teil der Intersexuellen die Anpassung als negativ und hätte sich ein Hinausschieben des Eingriffs in ein entscheidungsfähiges Alter gewünscht.

Enorme psychische Belastung Intergeschlechtliche Menschen erleben in vielen Bereichen ihres Lebens, zum Beispiel in der Schule, am Arbeitsplatz, beim Kleidungskauf, beim Kauf von personalisierten Tickets oder bei der Nutzung von Umkleidekabinen oder öffentlichen Toiletten Diskriminierung. Problematisch ist auch die Entwicklung eines Selbstverständnisses für ihre Geschlechterrolle (männlich, weiblich oder intersexuell), für welche es in der Gesellschaft keine oder wenig Vorbilder gibt. Das Umfeld kann einen Beitrag dazu leisten, dass Betroffene eine größere Lebenszufriedenheit erreichen: Ein offenerer Umgang mit dem Thema ist hilfreich, Berührungsängste abzubauen und den psychischen Druck von intersexuellen Menschen zu reduzieren.

Unterstützung suchen! Für Eltern kommt die Information über die Intersexualität ihres Kindes oft unerwartet, sodass sie auf Aufklärung und Unterstützung angewiesen sind. Am besten wählen sie zur Betreuung ein interdisziplinäres Behandlungsteam und beraten sich mit Vertretern aus verschiedenen Fachrichtungen (wie etwa Endokrinologen, Psychologen, Sexualwissenschaftlern, Chirurgen, aber auch Juristen, Sozialwissenschaftler und Pädagogen). Auch bei der Deutschen Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität e.V. gibt es Informationen sowie Adressen von Beratungsstellen.

Abgrenzung zur Transsexualität Transsexuelle sind im Gegensatz zu Intersexuellen mit einem eindeutigen biologischen Geschlecht ausgestattet, empfinden sich jedoch dem anderen Geschlecht zugehörig. Sie sind genetisch, anatomisch und hormonell „normal“ entwickelt, dennoch fühlen sie sich häufig schon seit der frühen Kindheit in ihrem Körper und mit ihrem Geschlecht unwohl. In einigen Fällen lassen Transsexuelle geschlechtsangleichende Operationen (Mann-zu-Frau oder Frau-zu-Mann) durchführen, um ihren psychischen Leidensdruck zu reduzieren.

Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 12/18 ab Seite 120.

Martina Görz, PTA, Psychologin und Fachjournalistin

Bereits in der Vergangenheit war Zwischengeschlechtlichkeit etwa durch die Gestalt Hermaphroditos aus der griechischen Mythologie bekannt. Hermaphroditos war eine besonders in Zypern als Gottheit verehrte männliche Form der Aphrodite, die männliche und weibliche Geschlechtsmerkmale vereinte. Da zwischengeschlechtliche Menschen den gesellschaftlichen und medizinischen Normen nicht entsprechen, wird das Phänomen der Intersexualität noch immer tabuisiert.

Männlich, weiblich, divers 2003 wagte sich Jeffrey Eugenides mit seinem Roman „Middlesex“ an das brisante Thema: Er erzählt die Lebens-und Familiengeschichte einer hermaphroditen Person und erhielt für sein Buch den Pulitzer-Preis. Das belgische Topmodel Hanne Gaby Odiele bekannte sich im Januar 2017 in einem Interview zur Intersexualität, mit dem Ziel, ein Tabu zu brechen.

Der Deutsche Ethikrat plädierte bereits im Jahre 2012 dafür, Menschen ohne ein eindeutiges Geschlecht die Eintragung „anders“ zuzuordnen. Im November 2017 entschied das Bundesverfassungsgericht über das revolutionäre Urteil, dass im Geburtenregister neben den Bezeichnungen „männlich“ und „weiblich“ ein dritter Geschlechtereintrag „divers“ für intersexuelle Personen möglich sei. Bis Ende 2018 muss die Gesetzesänderung umgesetzt sein.

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